Josef Quack

Das politische Gewicht kultureller Faktoren


Zu: Henry Kissinger, China. Zwischen Tradition und Herausforderung.
Dt. H. Dierlamm u.a. München 2011.




Da sie uns vorgelebt haben, die Chinesen, seit langem, seit jeher, ist es um so schmerzlicher zu sehen, wie sie uns jetzt nacheifern. Schließlich, wenn sie uns eingeholt haben, werden sie alles verloren haben, was sie vor uns voraushatten.

E. Canetti

Es ist sehr merkwürdig, daß alle Denker in der Geschichte der Menschheit, die von der faktischen Macht etwas verstehen, sie bejahen.

E. Canetti

Was viele unserer politischen Leitartikler und Kommentatoren zu bieten haben, ist meist nicht viel mehr als eine laienhafte, kurzsichtige, politisch korrekt beschränkte Beurteilung des Geschehens. Es ist noch geschmeichelt, wenn man ihren Standpunkt als historischen Provinzialismus und phänomenale Blindheit in Sachen der Kultur bezeichnet. Ihr geistiger Horizont bewegt sich in den Grenzen der unmittelbaren Jetztzeit. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist für manche, die sich im Radio vernehmen lassen, schon graue Vorzeit; was damals vor sich ging, haben sie nie begriffen. Ihr Weltbild besteht aus der flachen Ideologie des Multikulturalismus, der allen Kulturen der Welt gerecht werden will, tatsächlich aber keiner Kultur gerecht wird, weil sie selbst keine Kultur haben.
Da ist es eine Wohltat, das Buch eines Mannes lesen zu können, der wirklich etwas von Politik versteht, hat er doch einige folgenreiche Entscheidungen einer Großmacht maßgeblich mitbestimmt. Gemeint ist hier vor allem die Hinwendung der Regierung Nixon zur Volksrepublik China. Dieses Kapitel bildet, wie könnte es anders sein, den Höhepunkt von Kissingers Buch über China, und man wird sich nicht wundern, daß er indirekt, aber doch unmißverständlich auch sein eigenes Lob singt. Über seine Gespräche mit dem damaligen chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai schreibt er: „Wir formulierten gemeinsame Ziele, die uns beide im Amt überlebten — der höchste Lohn, den ein Staatsmann erhoffen darf“. Wenn er Richard Nixon von den zehn amerikanischen Präsidenten, die er gekannt hat, als den weitsichtigsten Außenpolitiker bezeichnet, spricht Kissinger natürlich auch von sich selber, war Nixon doch so klug, ihn zu seinem Sicherheitsberater zu ernennen — womit sub rosa gesagt ist, daß er Nixons Politik inspiriert hat.
Diesen Aspekt des Buches, den groß angelegten Versuch der Selbstrechtfertigung, wird natürlich jeder Leser in Betracht ziehen, wenn er das Buch beurteilt. Doch ist diese Studie doch ein wenig mehr als ein durchsichtiges Eigenlob, wie es für gewöhnliche Politiker-Memoiren typisch ist. Kissinger schreibt die Geschichte der chinesisch-amerikanischen Beziehungen von der Nachkriegszeit bis in das neue Jahrtausend; er versucht zu verstehen, was die politischen Akteure damals geleistet und auch was sie versäumt haben. Vor allem aber untersucht er als gebildeter Historiker überaus penibel in durchdringenden Textinterpretationen die genauen Motive und Ziele der chinesischen Akteure, von Mao Zedong bis Jiang Zenim.

Der kulturelle Faktor

Die Hauptthese dieses Buches besagt, daß man die Politik des kommunistischen China bis heute nicht verstehen kann, wenn man seine einzigartige Kultur nicht berücksichtigt, die in verschiedenem Maß alle politischen Aktionen des Landes zutiefst bestimmt hat. Dies heißt andererseits, daß die wichtigsten Fehleinschätzungen der westlichen und auch der sowjetischen Politiker auf ihre Ignoranz zurückzuführen sind, was das Selbstverständnis und die kulturelle Eigenart der Chinesen, den von ihnen niemals aufgegebenen Sinozentrismus angeht.
Die kulturelle Blindheit verleitete die amerikanischen Politiker während des Kalten Krieges zu der Annahme, daß die kommunistische Welt ein monolithischer Block sei. Sie übersahen den aus dem chinesischen Selbstverständnis resultierenden Gegensatz zwischen den beiden kommunistischen Großmächten, und diese Fehleinschätzung hat denn auch Amerika veranlaßt, sich in Vietnam militärisch zu engagieren, glaubte man in Washington doch an eine kommunistische Weltverschwörung, die ganz Südostasien zu bedrohen schien.
Außerdem übersah man den zweiten fundamentalen Gegensatz der gegebenen politischen Konstellation: den historisch bedingten Gegensatz zwischen China und Vietnam, das sein nationales Interesse über alles stellte.
Die Vorrangstellung der chinesischen Kultur und Zivilisation wird glänzend durch die Tatsache bestätigt, daß die mongolischen und mandschurischen Eroberer des Landes alle die chinesische Kultur übernahmen und auf diese Weise mit der Zeit gewissermaßen selbst zu Chinesen wurden.
Was die Gegenwart angeht, so unterstreicht Kissinger, daß Mao Zedong, der radikalste Zerstörer der traditionellen Kultur seines Landes, zugleich ein unnachgiebiger Verfechter des Sinozentrismus war. Er weigerte sich, dem Warschauer Pakt beizutreten, und hat den Sowjets niemals erlaubt, auf chinesischem Territorium Stützpunkte anzulegen. Kissinger zeigt auch, daß Mao bei weitreichenden außenpolitischen Entscheidungen auf exemplarische Fälle der chinesischen Geschichte zurückgriff, um seine Absichten zu formulieren, wie denn auch sein parabelhafter oder epigrammatischer Redestil ohne die Vorbilder aus der klassischen chinesischen Literatur kaum angemessen zu erklären ist. Im übrigen gefiel sich der permanente Revolutionär in der Rolle eines weisen Philosophenkönigs. Und Deng Xiaoping, der Reformen eingeleitet hat, die in der Geschichte des traditionellen und des kommunistischen China ohne Beispiel waren, hat als politisches Testament Instruktionen hinterlassen, die sich des epigrammatischen Stils der traditionellen Literatur bedienten. Er herrschte, wie Kissinger anmerkt, „nicht wie ein Kaiser, sondern wie der höchste aller Mandarine“.
Die Bedeutung des kulturellen Faktors für Chinas Politik hat Kissinger bis in die jüngste Zeit verfolgt, bis zur offiziellen Rehabilitierung des Konfuzius, und mit einer Einfühlungsgabe beschrieben, die für einen Amerikaner ganz ungewöhnlich ist. Es ist keine Frage, daß Kissingers Leistung sich auch dieser seltenen Gabe verdankt.
Aus früheren Epochen zitiert er manchen diplomatischen Satz in dem eleganten Stil, der nur in diesem Land ausgebildet wurde. Als Ende des 18. Jahrhunderts ein englischer Gesandter nach Peking kam und es an Ehrerbietung fehlen ließ, erhielt er ein Schreiben, worin „dem britischen Prinzregenten befohlen wurde, sich mit ‚Gehorsam’ anzustrengen, um ‚Fortschritte im Hinblick auf einen zivilisierten Wandel zu machen’“. Diese Zitate aus der raffiniertesten Diplomatensprache machen den literarischen Reiz des Buches aus, dessen eigener Stil die nüchtern abstrakte Analyse ist.
Schließlich bestimmt die kulturelle Sicht auch die höchst signifikante Definition, die Kissinger von den beiden Ländern gibt, deren Beziehungen er hier beschreibt: „Die Vereinigten Staaten und China sind nicht so sehr Nationalstaaten als vielmehr kontinentale Ausgestaltungen kultureller Identitäten“.

Historischer Sinn

Der zweite Vorzug, der neben der aufmerksamsten kulturellen Wahrnehmung dieses Buch auszeichnet, ist der historische Sinn, eine umfassende geschichtliche Bildung und eine globale Sicht, die es dem Autor ermöglicht, die Ereignisse politisch richtig zu bewerten. Kissinger schätzt den historischen Vergleich, der seinem Buch eine spezifische Tiefendimension verleiht. So zieht er eine Parallele zwischen der „Zeit der streitenden Reiche (475-221 v. Chr.)“ und auf europäischer Seite dem „Interregnum zwischen dem Westfälischen Frieden und dem Ende des Zweiten Weltkrieges“.
Diese Art des erhellenden Vergleichs zwischen zeitlich weit auseinander liegenden analogen Epochen verschiedener Kulturkreise erinnert natürlich an Oswald Spenglers Geschichtsbetrachtung, wie denn auch das Konzept der verschiedenen, relativ geschlossenen Kulturkreise auf ihn zurückgeht.
Der Westfälische Friede von 1648, auf den Kissinger sich öfter bezieht, markiert eine Wende in den zwischenstaatlichen und völkerrechtlichen Beziehungen, weil damals das Prinzip der Souveränität der Einzelstaaten verkündet wurde — in der praktischen Politik Europas wurde es dann für Jahrhunderte weitgehend anerkannt.
In seinem Ausblick auf die künftigen Beziehungen zwischen China und seinem Land, die entweder friedlich oder spannungsgeladen verlaufen könnten, zieht Kissinger wiederum einen historischen Vergleich, indem er auf das fatale Beispiel der englisch-deutschen Rivalität vor dem Ersten Weltkrieg verweist. Auch erklärt er, wozu historische Analogien gut sein könnten: sie sollten verhüten, daß man die Fehler der Vergangenheit wiederholt.

Der Realpolitiker

Kissingers Sicht der politischen Dinge ist betont rational, nüchtern und leidenschaftslos, da er sich nichts vormachen läßt und die Beziehungen zwischen Staaten im wesentlichen als Beziehungen der Macht, die Politik im Kern immer und überall als Machtpolitik begreift. Sein Blick ist stets auf politische Tatsachen gerichtet, nicht auf die ideologische, propagandistische Verbrämung der harten Fakten. So kritisiert er in seinem diplomatisch zurückhaltenden Stil etwa den damaligen Außenminister Dean Rusk, der im März 1966 die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nicht nach der tatsächlichen Lage, sondern nach der ideologischen Darstellung beurteilte. Eher indirekt und verhalten verurteilt er auch die späteren Ziele seines Landes, im Nahen Osten per Krieg demokratische Institutionen zu etablieren – was bekanntlich in einem Chaos endete, wie man heute im Irak, in Libyen und in Syrien sehen kann.
Diese auf Machtverhältnisse geeichte Sicht des Realpolitikers hält Kissinger selbst dann durch, wenn er gewisse moralische Konzessionen macht und zum Beispiel erklärt, daß „die amerikanische Außenpolitik nie allein machtpolitisch motiviert sein“ dürfe. Womit er als selbstverständlich voraussetzt, daß die amerikanische Außenpolitik im Grunde, zuerst und hauptsächlich eben doch Machtpolitik ist. Auch spielt er hier auf die spezifische politische Kultur Amerikas an: „Demokratische Grundwerte und die Menschenrechte sind grundlegend für Amerikas Glauben an sich selbst.“
Kissinger plädiert für einen vernünftigen Kompromiß zwischen einer Politik, die an den Normen der Menschenrechte orientiert ist, und einer Politik, die ausschließlich die Machtinteressen des eigenen Landes im Auge hat. Er meint, kein amerikanischer Präsident könne massive „Übergriffe gegen Menschenrechte ignorieren, aber jeder sollte sie sorgfältig einordnen und sich über das Prinzip der unbeabsichtigten Folgen politischen Handelns im klaren sein.“ Zu ergänzen wäre, daß solche unbeabsichtigten Folgen heute auf allen Feldern amerikanischer Kriege in erschreckendem Ausmaß die peinliche Realität sind.
Er kann auf die Erfahrung verweisen, daß der Versuch, Menschenrechte durch Konfrontation durchzusetzen, in der Regel kontraproduktiv ausfällt. Außerdem verschweigt er nicht, daß Amerika im eigenen Land selbst gravierende Probleme mit Menschenrechten hat. In Klartext übersetzt, bedeutet dies, daß das gerne selbstbewußt und selbstgerecht auftretende Amerika in dieser Hinsicht einigermaßen unglaubwürdig ist und dies nicht erst seit heute.
Im Zentrum dieser Debatte stehen die Ereignisse auf dem Tien Anmen Platz vom Sommer 1989, wo das chinesische Heer die Massendemonstration brutal niedergeschlagen hat. Kissinger verurteilt diese Aktion, doch versucht er auch hinter die Motive der chinesischen Führer zu kommen, die lange zögerten, ehe sie mit Gewalt einschritten. Dabei zeigt sich, daß für sie die Stabilität und die Einheit des Landes das oberste politische Ziel ist und jene Demonstrationen in den Augen der politischen Führung zu einem Bürgerkrieg auszuarten und das Land ins Chaos zu stürzen drohten, was sie in Erinnerung an den blutigen Taiping-Aufstand im 19. Jahrhundert und nach dem Desaster der maoistischen Kulturrevolution nicht dulden konnte. Auch erinnert der Autor an den elementaren Umstand, daß es kein leichtes ist, die sozialen und ethnischen Probleme einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen gerecht zu lösen. Implizit gibt er damit zu verstehen, daß jeder, der sich der Rhetorik der Menschenrechte bedient, auch die vielschichtige Gesamtlage des Riesenreiches berücksichtigen müsse. Kissinger ist ein entschiedener Verfechter einer hinreichend informierten Verantwortungsethik.

Politische Einsichten

Es kann nicht verwundern, daß ein erfahrener Politiker dieses Formats auch einige politische Einsichten mitzuteilen hat, die eines längeren Nachdenkens durchaus wert sind. Wir erfahren etwa, daß Rußland 1905 nach der Niederlage im russisch-japanischen Krieg „seine strategischen Überlegungen wieder primär Europa“ zuwandte — „eine Entwicklung, durch die der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beschleunigt wurde“. Dies ist ein Gesichtspunkt, der in der jüngsten Diskussion über die Schuld am Ersten Weltkrieg überhaupt nicht zur Sprache kam.
Höchst aufschlußreich ist auch die Darstellung des Koreakrieges. Dazu bemerkt Kissinger, daß Moskau und Peking sich auch zehn Jahre nach dem Krieg darüber nicht einigen konnten, wer von ihnen, Stalin oder Mao, letztlich Nordkorea grünes Licht für seine Invasion gegeben hat — es war Stalin. Auch erwähnt er, daß ein mißverständliches amerikanisches Geheimdokument, das ein britischer Spion an die Sowjetunion weitergegeben hat, Stalin dazu verleitet habe, das kriegerische Abenteuer zu wagen. Kissinger schreibt, daß der britische Überläufer Donald Maclean der Schuldige gewesen sei. Bei Peter Scholl-Latour kann man nicht nur Genaueres über diesen "vergessenen Krieg" nachlesen, sondern auch das Faktum, daß Kim Philby während des Koreakrieges ebenfalls amerikanische Informationen an die östliche Seite weitergegeben hat (Koloß auf tönernen Füßen 2006, 167). Kissinger hält übrigens Stalin für den größten Verlierer in diesem Krieg, weil er die Folgen seiner Entscheidung falsch einschätzte, darunter die überaus prekäre, konfliktträchtige Abhängigkeit Chinas von der Sowjetunion.
Auch erfahren wir von Kissinger, daß die Sowjets 1969 ernsthaft daran dachten, einen Präventivschlag gegen die chinesischen Atomanlagen durchzuführen. Die Katastrophe sei näher gewesen, als man damals im Westen dachte.
Dagegen dürfte der Verfasser sich irren, wenn er vermutet, Mao habe allen Ernstes geglaubt, die amerikanischen Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg hätten zu einer Revolution in den Vereinigten Staaten führen können. Gewiß war der alte chinesische Revolutionär in politischen Dingen nicht unfehlbar, aber daß er die Chance einer Revolution in einem hochindustrialisierten Land derart falsch eingeschätzt habe, ist mehr als unwahrscheinlich.
Dagegen hat Kissingers Analyse des dritten Vietnam-Krieges von 1979 wiederum einiges für sich. Während die meisten Historiker sich einig sind, daß die chinesische Strafaktion gegen Vietnam ein Fehlschlag für China gewesen sei, kann er nachweisen, daß die chinesische Strategie ihre Ziele erreicht hat – sie folgte nämlich den klassischen Vorgaben der Kriegskunst Sun Tzus.
Sein Urteil über seinen Favoriten unter den amerikanischen Präsidenten konnte man voraussehen: „Nixons Besuch in China ist eine der wenigen Staatsvisiten der Geschichte, die zu einer bahnbrechenden Veränderung in den internationalen Beziehungen geführt hat.“ Dabei ist stillschweigend zu ergänzen, daß die allermeisten Staatsbesuche Medienspektakel, überflüssige Schau sind.
Er zeigt sich als Realpolitiker reinsten Wassers, wenn er schreibt, daß die beiden Länder auch nach der Aufnahme politischer Beziehungen selbstverständlich damit fortfuhren, sich gegenseitig nachrichtendienstlich auszuspähen. Diese Praxis ist auch uns aus der jüngsten Zeit bekannt, und nur politische Laien können sich darüber wundern.

Maximen der Staatskunst

Der Verfasser dürfte seine kaum verhohlene Freude daran gehabt haben, als er die Erfahrungen seiner politischen Tätigkeit in epigrammatischen Maximen niederschrieb, die der rhetorischen Form chinesischer Spruchweisheit nachgebildet sind. So können wir etwa lesen, „die eigentliche Aufgabe der Staatskunst sei die Gestaltung der Zukunft. Reiche haben Bestand, wenn Repression durch Konsens ersetzt wird.“
Aus den folgenden Worten spricht der Analytiker, der ein Leben lang politische Konflikte untersucht und bewertet hat: „Bei der Planung von Politik besteht das Problem, daß Analysen die Stimmung des Augenblicks nicht voraussagen können, in dem eine Entscheidung getroffen werden muß.“
Dann äußert sich der überlegene Akteur, der sich auf der politischen Bühne eben so sicher bewegt wie hinter den Kulissen: „Die Kunst des Krisenmanagements besteht darin, den Einsatz zu erhöhen, bis der Gegner nicht mehr mithalten will, zugleich jedoch einen direkten Schlagabtausch zu vermeiden.“
Das folgende Statement erinnert an analoge Aussprüche Bismarcks, vor dem Kissinger sich gelegentlich durchaus respektvoll verneigt: „Führungspersönlichkeiten können sich das Umfeld nicht aussuchen, in dem sie operieren. Ihr eigener Beitrag besteht darin, die Grenzen der jeweiligen Situation voll auszuschreiten. Gehen sie darüber hinaus, dann scheitern sie.“
Er spricht gewiß aus eigenster Erfahrung unter den spezifischen Bedingungen der amerikanischen Mediendemokratie, wenn er bekennt: „Präsidenten mögen es in der Regel nicht, wenn sie von ihrem Sicherheitsberater übertroffen werden.“

Folgerungen

Als Geschichte der machtpolitisch grundierten Diplomatie zwischen China und Amerika bewegt sich das Buch in der Nachfolge von Leopold von Ranke, als Geschichte verschiedener, in sich geschlossener Kulturkreise ist es dem Konzept von Samuel Huntington und dem Vorbild Spenglers verpflichtet. Dies ist auch der theoretische Hintergrund der Worte, mit denen Kissinger sein letztes Spiegelgespräch über die globale Welt begann: „… doch es gibt keine Regeln mehr, die allgemein akzeptiert werden, sondern lediglich die Sicht Chinas, der islamischen Welt, des Westens, der Russen. Und diese Konzepte sind nicht kompatibel.“ (Der Spiegel 46/2014) Die interviewenden Redakteure erkannten weder die in diesen Worten implizierte Kulturtheorie noch den staatsrechtlichen Stellenwert des Westfälischen Friedens, den Kissinger auch hier erwähnte. Soviel als Beleg für die historische und kulturelle Bildung unserer politischen Journalisten.
Kissinger hat sich in seinem Buch mehrfach auf die Taiping-Rebellion, den wahrscheinlich blutigsten Bürgerkrieg der gesamten Menschheitsgeschichte, als auf einen Tiefpunkt in der Niedergangsperiode Chinas bezogen. Vor nicht allzu langer Zeit hat dann der geistig und politisch überaus bewegliche Hans Magnus Enzensberger über den Taiping-Aufstand einen Essay geschrieben, in dem er dieses Ereignis, übrigens wenig überzeugend, als eine aktuelle Parabel deutete, die auf das berüchtigte islamische Kalifat im Nahen Osten gemünzt war (Der Spiegel 3/2015). Weder Enzensberger noch die Zeitschrift dachten daran, auf Erwin Wickert und seinen Roman über dieses Ereignis, Der Aufstand (1961), hinzuweisen. Der Roman fand seinerzeit den bewundernden Beifall einiger Chinakenner.
Wenn man das Thema, das Kissinger so ausführlich und kundig besprochen hat, auf die aktuelle Lage in Alt-Europa bezieht, dann muß man feststellen, daß es alles andere als eine Neuigkeit ist, daß die Europapolitiker und die journalistischen Besprecher ihrer Taten und Versäumnisse die kulturellen Faktoren ihrer Beitrittspolitik sträflich vernachlässigt haben. Mehr darüber kann man wiederum bei Huntington nachlesen (cf. J.Q., Rez.: Der Kampf der Kulturen).
Angemerkt sei nur noch, daß sie, die Akteure und ihr publizistischer Chor, wohl kaum wissen, daß Griechenland zur Levante gehört, und auch wohl kaum eine Ahnung haben, was dies bedeutet. Kennzeichen der levantinischen Folklore sind ein immer reges Mundwerk, ein durchtriebener Handelsgeist und der sportliche Ehrgeiz, seinen Partner übers Ohr zu hauen, was denn auch den Griechen bezüglich der Eurogruppe bisher vortrefflich gelungen ist. Wer sie bewundert, kann unsere Regierenden nur verachten.
Zu Kissinger sei noch notiert, daß es seinem Ruf als origineller politischer Vordenker keineswegs geschadet hätte, wenn er eingeräumt hätte, daß Charles de Gaulle schon 1964, als Nixon noch nicht Präsident und Kissinger noch nicht sein Berater war, die historisch bedingte nationale Eigenart Chinas klar erkannt und die zweitrangige Bedeutung der kommunistischen Ideologie im Konzert der Großmächte durchschaut hatte. De Gaulle dachte wie Kissinger in nationalen, nicht in ideologischen Kategorien.
Zum Schluß eine Arabeske. Bei der Lektüre von Kissingers Buch wird klar, daß man die Intelligenz eines Politikers auch daran erkennen kann, daß er intelligente Mitarbeiter für sich zu gewinnen vermag. Dies ist zum Beispiel Brandt und Kohl, aber nicht Schmidt gelungen, der nur subalterne Yes-Männer um sich scharen konnte. Eine weitere, nicht die geringste Lehre, die diese aufschlußreiche Studie vermittelt.

J.Q. — 26. Aug. 2015

© J.Quack


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