Josef Quack

Ein politisches Fehlurteil
Helmut Schmidt über Adenauer




Helmut Schmidt erhebt in seinem Erinnerungsbuch Weggefährten (Berlin 1998) gegen Adenauer zwei Vorwürfe, einen Vorwurf gegen dessen angeblich unfaire oder gar bösartige Wahlkampfmethode und einen Einwand gegen dessen angeblich verfehlte Deutschlandpolitik.

Schmidt zitiert aus dem Jahr 1957 die Sätze Adenauers: „Bei der kommenden Bundestagswahl geht es um die Entscheidung, ob Deutschland und Europa christlich bleiben oder kommunistisch werden wollen. Wenn die Sozialdemokraten siegen würden, dann würde alles zerschlagen werden.“ (l.c. 499) Schmidt vergißt bei seiner Kritik an Adenauers militanten Parolen gegen die Sozialdemokraten, daß diese Partei in der Frühzeit der Bundesrepublik nicht nur kirchenfeindlich war, sondern nach ihrer überholten materialistischen Doktrin aus dem 19. Jahrhundert jede Religion prinzipiell ablehnte.

Diesen ideologischen Hintergrund muß man kennen, wenn man verstehen will, daß Adenauer und seine Partei jahrelang für ein „christliches Abendland“ plädierten und Europa mit dem „christlichen Abendland“ gleichsetzten, was nicht nur eine innenpolitische Bedeutung hatte, sondern auch die Integration Europas rechtfertigen sollte. Die Betonung des Christentums des Westens war nicht zuletzt auch gegen die weltanschauliche Doktrin der Staaten des Ostblocks gerichtet, die sich programmatisch als atheistische Staaten verstanden und das Christentum in ihrem Land oft unterdrückten.

Adenauer zitiert aus dem ersten Wahlkampf der Bundesrepublik sozialdemokratische Stimmen, die nicht nur den „politischen Katholizismus“ bekämpften, sondern auch die katholische Soziallehre, die Schmidt selbst durchaus akzeptieren konnte. Zitiert wird auch ein programmatischer Artikel gegen „absolute Werte“ in der Politik, womit natürlich die Religion gemeint ist. (Adenauer, Erinnerungen 1945-1953. Stuttgart 1965, 216). Mit dem letzten Punkt widerspricht jener Sozialist aber dem Grundgesetz, das im ersten Satz einen absoluten Wert proklamiert: die Würde des Menschen.

Angesichts der weltanschaulichen Ideologie der damaligen Sozialdemokratie braucht man sich nicht zu wundern, daß es als Antwort der Bischöfe dann Hirtenbriefe gab, die von der Wahl der antichristlichen und antireligiösen Partei abrieten. Die konservative politische Ausrichtung der Kirche war eine verständliche Reaktion auf die materialistische Doktrin der Sozialdemokraten. Erst mit dem Godesberger Programm hat die Partei jede weltanschauliche Festlegung vermieden und ihre kirchenfeindliche Haltung aufgegeben. – Doch scheint die alte Ideologie der Partei noch nicht ganz vergessen zu sein; denn im letzten Wahlkampf konnte man wieder Stimmen hören, die sich ausdrücklich gegen konservative Christen richteten.

Was Adenauer angeht, so behauptet Schmidt, daß er in den siebziger Jahren dessen „volle Bedeutung und Größe richtig einzuschätzen gelernt“ habe, und fügt einen Nachsatz hinzu, der im Gegenteil belegt, daß er Adenauers politische Leistung auch damals nicht erkannt hat. Er hat die weitblickende Strategie seiner Deutschlandpolitik nicht durchschaut, wenn er schreibt: „Aber ich sah auch, daß er sich relativ früh mit der Zweiteilung Deutschlands als unabänderlicher Tatsache abgefunden hatte. Möglicherweise hat er sie auch innerlich akzeptiert.“ (Weggefährten S.500) Mit anderen Worten, Schmidt hat nicht mal nach der Wiedervereinigung gesehen, daß sie so verlaufen ist, wie Adenauer es sich gedacht und in seiner unbeirrbaren West-Politik verfolgt hatte.

Dagegen hat Henry Kissinger das Ziel von Adenauers weitblickender Politik richtig eingeschätzt: „Er glaubte, daß die Einheit schließlich durch den Zerfalls des sowjetischen Satellitenorbits, das überlegene Wirtschaftswachstum der Bundesrepublik, die Stärke und den Zusammenhalt des Atlantischen Bündnisses und Spannungen innerhalb des Warschauer Pakts zustande kommen werde. Er ging also von einem Zusammenbruch des ostdeutschen Satellitenstaates aus – etwa so, wie es tatsächlich im Jahr 1989 geschah.“ (Staatskunst 2022, 71)

Übrigens teilte Winston Churchill die Meinung des deutschen Kanzlers in diesem Punkt, wie er in einem Gespräch vom 4. Dezember 1951 zu Adenauer sagte: „Wenn der Westen stärker ist, wird die Sowjetunion vielleicht zurückweichen und eine Vereinigung Deutschlands zulassen“ (Adenauer, Erinnerungen 1945-1953, S.508).

Post festum, nachdem das vorhergesagte Faktum eingetreten ist, kam Schmidt dann auch zu einer vage ähnlichen Erkenntnis, ohne aber zu merken, daß er damit nur den Kerngedanken Adenauers wiederholt, und ohne zu erkennen, daß sich dessen Deutschlandpolitik als richtig erwiesen hat. Ohne es durch ein Zitat zu belegen, erklärt er: „Ich selbst habe immer – in Kenntnis der europäischen Geschichte der letzten Jahrhunderte – fest daran geglaubt, eines fernen Tages werde es auf unserem Kontinent eine Konstellation geben, die es erlaubt, unsere Nation wieder unter ein und demselben Dach zu vereinigen.“ Er fügt als eigene Weisheit hinzu: „Ohne den inneren Zerfallsprozeß der Sowjetunion und ihrer Macht ohne den schließlich glücklosen Gorbatschow wäre uns dieses Glück nicht zuteil geworden.“ (Weggefährten S.451)

Dieser Umstand, daß Schmidt einen Gedanken äußert, der historisch längst weitaus präziser konzipiert wurde, ohne sich dieses Zusammenhangs bewußt zu werden, zeigt, daß seine Ausführungen in dem dahingeplauderten Erinnerungsbuch über ein oberflächliches, theoretisch unzureichendes, historisch unzulängliches Niveau nicht hinauskommen.

Daß Helmut Schmidt in der zentralen Frage der Deutschlandpolitik damals nicht zu der Einsicht Adenauers, Churchills und Kissingers gelangt ist, zeigt wie nichts anderes die Grenze seines politischen Urteilsvermögens. Schmidt bezeichnet Kissinger als seinen Freund, was im politischen Jargon nicht mehr bedeutet, als daß man sich kennt, in einem bestimmten Maß auch schätzt und den Kontakt pflegt.

Während jedoch Konrad Adenauer in Kissingers Buch als einer der sechs Helden der Staatskunst figuriert, wird Schmidt nebenbei zwar als ein Staatsmann beschrieben, der „die deutsche Außenpolitik im Grund auf die Prinzipien Adenauers“ konzentriere; große Taten von ihm aber kann der Autor nicht berichten. Konkret wird seine Zustimmung zu dem NATO-Doppelbeschluß genannt, was ihn die Mehrheit seiner Partei und damit die Kanzlerschaft gekostet hat. Erwähnt werden auch seine Bemühungen um die Einigung Europas in der Nachfolge Adenauers.

Kissinger betont Schmidts Pflichtbewußtsein und hebt sein Diktum hervor, daß „Politik pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken“ sei (Staatskunst S.78f.) Es sind gewiß löbliche Attribute, sie machen aus ihm aber noch nicht einen bedeutenden Staatsmann. Schmidt ist als Kanzler letztlich an seiner eigenen Partei gescheitert, die seine Politik nicht mehr unterstützte. Er selbst hat später seinen Entschluß, nach dem Rücktritt Brandts das Kanzleramt zu übernehmen, nicht aber auch den Parteivorsitz, einen politischen Fehler genannt (Weggefährten S.446).

Die Frage ist jedoch, ob er überhaupt der richtige Mann für den Vorsitz der Partei in einer Zeit gewesen wäre, wo sie den Herausforderungen der Studentenrevolte, der Anti-AKW-Bewegung und der Friedensbewegung ausgesetzt war. Diese Aufgabe konnte nur eine Integrationsfigur wie Brandt erfüllen, nicht jedoch der schroffe und selbstbewußt agierende Fachpolitiker, der seine unbestreitbare Kompetenz in Ökonomie und militärischer Strategie aber doch wohl überschätzte. Er war im Grunde kein Parteipolitiker, wie es die bedeutenden Kanzler Adenauer und Kohl waren, die es verstanden, ihre politische Macht zu organisieren, indem sie die Mehrheit der Partei hinter sich brachten, eine Condition sine qua non in einer Parteiendemokratie.

Ein Politiker aber, der unfähig ist, die Leistung anderer Politiker zu erkennen, kann selbst kein bedeutender Politiker sein. Helmut Schmidt war unfähig, die eigentliche Leistung Adenauers zu erkennen. Also war Schmidt kein bedeutender Bundeskanzler, anders als Adenauer oder Willy Brandt und Helmut Kohl, die er auch nicht recht zu würdigen verstand.

© J.Quack — 2. Mai 2023


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