Josef Quack

"Der Migrationshintergrund"
— eine Mißbildung des Behördendeutschs




Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.

L. Wittgenstein

Nun ist das eingetreten, was Sprachkenner erwartet hatten: Ein Ausdruck, der geprägt wurde, um ein angeblich diskriminierendes Wort zu ersetzen, wird nun selbst als diskriminierend empfunden: „der Migrationshintergrund“.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 30. April 2023 antwortet der Schauspieler Langston Uibel auf die Frage, was ihn nerve: „Das Wort Migrationshintergrund … Menschen haben in Deutschland per Definition einen Migrationshintergrund, wenn sie selber oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzen. Jedoch hat sich im Alltagsverständnis dieser Begriff zu einem Synonym für Ausländer oder nicht weiße Menschen entwickelt. Der Begriff wird also nicht wirklich benutzt, um tatsächliche Migrationsgeschichten etwa aus Italien, Tschechien oder Rußland zu definieren. Vielmehr wird er etwas willkürlich benutzt, um deutsche Menschen zu charakterisieren, die vermeintlich nicht vorbehaltlos deutsch aussehen.“

Und er schließt mit der Folgerung: „Bei diesem Begriff handelt es sich also nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern um eine Zuschreibung. Es bedeutet, daß für diese deutschen Menschen oft erst durch die Verwendung des Begriffs Migrationshintergrund ein künstlich produziertes Anderssein entsteht, obwohl sie sich selbst bedingungslos als Deutsche sehen und fühlen.“

Klar ist nach diesen Worten, daß der Ausdruck „Migrationshintergrund“ von den eingebürgerten Einwanderern oder Flüchtlingen heute vielfach als abwertend und ausgrenzend empfunden wird, ähnlich wie das Wort „Ausländer“. Der Schauspieler weist besonders auf solche Menschen fremder Abstammung hin, die sich ohne Vorbehalt als Deutsche im kulturellen und historischen Sinne fühlen. Sie betrachten die deutsche Kultur, die deutsche Geschichte, die deutsche Sprache als ihre Kultur, ihre Geschichte, ihre Sprache. Daraus ergibt sich, daß sie sich selbst falsch bezeichnet fühlen, wenn man sie Menschen mit Migrationshintergrund nennt – weil dieses Wort eine negative Konnotation angenommen hat.

Diesen Bedeutungswandel aber haben die politisch korrekten Erfinder des „Migrationshintergrundes“ in den deutschen Amtsstuben nicht berücksichtigt, obwohl die Möglichkeit des Bedeutungsumschwungs jedem Sprachkenner natürlich bewußt war. Die Sprachkompetenz der amtlichen Sprachpfleger und der politisch Korrekten im allgemeinen aber ist erbärmlich, was noch höflich ausgedrückt ist; tatsächlich ist sie überhaupt nicht vorhanden. Sie wissen nicht, daß die Bedeutung eines Wortes letzten Endes von seinem Gebrauch abhängt; der Gebrauch aber wird durch die Absicht des Sprechers bestimmt.

Langston Uibel scheint sagen zu wollen, daß er die Selbstbeschreibung von Menschen vorzieht. Er sagt aber nicht, wie er deutschstämmige Menschen sprachlich unterscheiden will von eingewanderten Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Auch scheint er die Zuschreibung von anderen abzulehnen, was aber ein unpraktisches und letztlich absurdes Ansinnen ist. Alle Wissenschaft lebt von der Beschreibung fremder Phänomene, jede Gesellschaft beschreibt nach ihrem eigenen Gesichtspunkt andere Gesellschaften und jeder Mensch setzt sich von seinen lieben Nächsten dadurch ab, daß er sie in seinem Sinne charakterisiert. Schließlich ist für das Wort „Ausländer“ noch kein Ersatz gefunden worden und der Duden registriert es und seine Ableitungen mit Recht sachlich ohne irgendwelche Vorbehalte.

So ist es auch absurd, den Ausdruck „Indianer“ als diskriminierend zu verbieten, weil er auf die amerikanischen Eingeborenen von den Europäern angewandt wurde. Übrigens haben viele Ur-Amerikaner diese Bezeichnung für sich übernommen und außerdem sind es keine einheimischen Ureinwohner, sondern aus Asien zugewandert. Wenn man "Indianer" verbietet, müßte man auch "Amerikaner", "Asiat" usw. verbieten – alles von Nicht-Einheimischen vergebene Namen.

Wir haben in unseren Breiten aber den Fall, wo eine verächtliche Fremdbezeichnung von den Betroffenen übernommen wurde – ohne die verächtliche Grundbedeutung des Wortes: „schwul“. Der Ausdruck wurde früher in der Regel als verächtliches Schimpfwort gebraucht. Heute heißt es im Wahrig, Die deutsche Rechtschreibung (Gütersloh 2005): „schwul umgangssprachlich: homosexuell“, und im Duden, Die deutsche Rechtschreibung (Mannheim 2009) : „schwul (umgangssprachlich und Selbstbezeichnung für homosexuell)“.

Im Duden kann man aber auch zu einem anderen gleichsam offiziell verpönten Problemwort lesen: „Neger … (wird häufig als diskriminierend empfunden)“. Dagegen wird „negrid“ nicht als diskriminierend beschrieben, sondern ohne Bedeutungsangabe nur als „Anthropologisch veraltend“ registriert. Ähnlich „Negrospiritual“ d.h. „veraltet für Spiritual“, „Negrito“ oder „Negritude“, als Wörter ohne negative Konnotation. Diese Art der schulmeisterlichen, normativen Sprachpflege ist gelinge gesagt inkonsequent.

So besonders in der Notierung bei Wahrig. Hier liest man: „Neger … abwertend für Negride, Schwarzer“. Weiter heißt es: „Negride, Pl., Sammelbezeichnung für alle dunkelhäutigen und kraushaarigen Menschen Afrikas und Ozeaniens“. Nach diesem Wörterbuch ist also das Wort „Neger“ diskriminierend, das Wort „Negride“ ist es dagegen nicht, sondern rein deskriptiv zu verstehen – eine willkürliche Beschreibung, die dem gewöhnlichen Sprachverständnis keineswegs entspricht. Wenn man „Neger“ als einen pejorativen Ausdruck versteht, dann verbindet man gewöhnlich diese Wertung auch mit den Ableitungen dieses Wortes.

Keines der Wörterbücher hält es für nötig, anzugeben, daß "Neger" vom lateinischen "niger, nigra, nigrum" herkommt, was einfach "schwarz" heißt. Wer sich dieser Herkunft bewußt ist, kann nicht annehmen, daß das deutsche Lehnwort "Neger" an und für sich ein diskriminierendes Wort sei.

In der zeitgeistkonformen Öffentlichkeit hat es sich eingebürgert, statt von „Neger“ von dem „N-Wort“ zu sprechen. Die Wortführer der öffentlichen Meinung aber haben in ihrer sprachlichen Naivität übersehen, daß man ein angeblich unverächtliches Synonym für ein Schimpfwort selbst wiederum als verächtliches Schimpfwort gebrauchen kann. Das Wort „Götz“ in vollem Ernst, mit tiefer Verachtung einem Gegner an den Kopf geworfen, ist ebenso beleidigend wie das wörtliche Zitat aus Goethes Drama, Götz von Berlichingen, Dritter Akt, Szene Jaxthausen. Das gleiche gilt von dem Ausdruck „N-Wort“ — man kann auch diesen Ausdruck voller Haß diskriminierend gebrauchen, während man den Ausdruck „Neger“ rein beschreibend und selbstverständlich auch wohlwollend und betont freundlich gebrauchen kann.

Auch wissen die politisch Korrekten in den Redaktionen nicht, daß man jedes Schimpfwort auch ironisch gebrauchen kann, d.h. in einem umwertenden Sinne. Dafür ein Beispiel, das nun schon fast klassisch geworden ist. Helmut Schmidt berichtet von der menschlichen Atmosphäre, die zwischen ihm und Franz Josef Strauß trotz aller politischen Gegnerschaft geherrscht habe: „Mehrfach ist es vorgekommen, daß ich zur Begrüßung zu ihm gesagt habe: ‚Na, Sie alter Gauner?‘, worauf der bayrische Ministerpräsident regelmäßig geantwortet hat: ‚Na, Sie alter Lump!‘“ (Weggefährten Berlin 1998, 508).

Es kann aber auch vorkommen, daß ein Mensch die Beschimpfung durch einen Gegner akzeptiert, weil er sie als Bestätigung seiner Meinung betrachtet – nach dem Motto: Viel Feind, viel Ehr. Auch dafür gibt es ein inzwischen berühmt gewordenes, durchaus geistreich zu nennendes Beispiel von Adenauer: „Zog nicht der Bundeskanzler Adenauer triumphierend eine Postkarte aus der Tasche – sie kam aus Hamburg und war anonym -, auf der stand: ‚Du alter Gauner‘. Als dann der damalige Bundespostminister Stücklen rief: ‚Darauf sind Sie wohl noch stolz?‘, die Antwort bekam: ‚Dat bin ich auch.‘“ (W. Henkels, Der Kanzler hat die Stirn gerunzelt. Bergisch-Gladbach 1986, 44).

Die Beispiele zeigen, daß diese Politiker etwas hatten, was die politisch Korrekten unserer Tage nicht haben: gesunden Menschenverstand und Humor.

© J.Quack — 3. Mai 2023




Josef Quack

Zur Wortwahl von Martin Luther King




Gerd Ruge, weitgereister und vielerfahrener Korrespondent, schildert in seinem Buch Unterwegs. Politische Erinnerungen (2013) die heiße Phase der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen 1964 und April 1968, als der Wortführer der Bewegung, Martin Luther King, in Memphis erschossen wurde. Neben der Erzählung der gesellschaftlichen Mißstände ist das Interessanteste und Merkwürdigste des Berichts das Folgende: Die Unbefangenheit, mit der die Anhänger der Bewegung sich selbst bezeichneten, und die Selbstverständlichkeit, mit der die Politiker und Beamte, die die Bewegung unterstützten, am überlieferten Sprachgebrauch für die schwarzen Amerikaner festhielten. Das heißt, sie kannten noch nicht den Schwachsinn der Politischen Korrektheit.

Zur Erinnerung, in den angegebenen Jahren herrschte in einigen Südstaaten im öffentlichen Raum, in den Schulen, Kirchen, Bussen und Bahnen, Restaurants, Parks, die strikte Rassentrennung. Schlimmer aber war, daß die Schwarzen nicht als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt wurden. Nach Kennedys Ermordung gelang es dem neuen Präsidenten Lyndon Johnson, Bürgerrechtsgesetze von dem Kongreß billigen zu lassen, die Kennedy nicht hatte durchsetzen können. Es ging darin um die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner und vor allem um die Absicherung ihres Wahlrechts (S.178). 1965 unterzeichnete er das neue Wahlrechtsgesetz, das allen Bürgern, gleichgültig welcher Hautfarbe, den Zugang zur Wahlurne sicherte (S.183). Damit war eine Hauptforderung der Bürgerrechtsbewegung erfüllt. Gegen diese Gesetze gab es heftigen Widerstand der weißen Rassefanatikern.

Auf seiten der Bürgerrechtsbewegung setzte sich Martin Luther King für einen gewaltlosen Widerstand ein und er benutzte nach wie vor das Wort „Neger“. Stokely Carmichael hatte das Student Nonviolent Coordinating Committee gegründet, das die gleichen Ziele und zunächst auch die gleiche Methode verfolgte. Doch mit der Schärfe der Kampagne gegen die Aufhebung der Rassentrennung gab jene Vereinigung die Idee des gewaltlosen Widerstands auf und diese Gruppen sprachen nun von „Schwarzen“ und von „Black Power“, gemeint war die schwarze Macht und das Recht auf Selbstverteidigung, ein militanter Faktor, der mit dem ursprünglichen Ziel einer Überwindung der Rassentrennung nicht einfach zu vereinbaren war (S.183).

Daß diese schwarzen Amerikaner sich nun nicht mehr „Neger“, sondern „Schwarze“ nannten, zeigt einen Wandel in der Politik an, wie sie ihre Interessen nun vertreten wollten. Die herkömmliche Selbstbezeichnung wurde dabei keineswegs als diskriminierend empfunden, wie dies heute von den politisch-korrekten Ideologen behauptet wird.

Präsident Johnson hielt sich in einer Rede vom März 1965 vor dem Kongreß, in der er die Rechte der Schwarzen verteidigte, ebenfalls an die überlieferte Redeweise: „Es ist der Wille amerikanischer Neger, sich die Teilnahme an allen Segnungen des amerikanischen Lebens zu sichern. Ihre Sache muß auch unsere Sache sein. Denn es sind nicht nur die Neger, sondern in Wahrheit sind es wir alle, die das lähmende Erbe der Bigotterie und Ungerechtigkeit überwinden müssen. Und wir werden es überwinden.“ (S.181f.)

Damit dürfte klar geworden sein, daß der Sprachwandel von „Neger“ zu „Schwarzer“ in der Selbstbezeichnung dieser amerikanischen Volksgruppe nichts mit Abfälligkeit und Diskriminierung zu tun hat, sondern eine andere politische Strategie zum Ausdruck bringt. Die spätere Selbstbezeichnung „Afro-Amerikaner“ betont dann ausdrücklich, daß sie wie die Weißen ebenfalls Amerikaner, gleichberechtigte Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika sind. Dies ist eine direkte Bezeichnung ihres politischen Selbstverständnisses, die die früheren Namen an sich nicht obsolet macht. Daß diese Ausdrücke später von den Vertretern der politischen Korrektheit verpönt wurden und diese Ausdrücke nicht einmal mehr zitiert werden durften, scheint mir die historische Ignoranz dieser Leute zu beweisen.

Man spricht heute statt von „Neger“ von dem N-Wort, was in Wahrheit bedeutet, daß man zwar dieses Wort nicht mehr aussprechen darf, wohl aber denken muß, wenn man es verstehen will. Ein absurdes und groteskes Ansinnen, das keinem vernünftigen Menschen zumutbar sein sollte.

Übrigens, in Brasilien ist man durchaus recht tolerant, was die sprachliche Bezeichnung der verschiedenen Volksgruppen angeht. Sie sind in allerlei Mischformen miteinander verbunden. So ist auch das fragliche Wort nicht verpönt, was politisch doktrinierte, aber in der Landessitte unkundige Europäer nicht wissen. Im März 2009 besuchte Peter Scholl-Latour Rio de Janeiro. Seine spanische Begleiterin bat einen zehnjährigen Jungen, auf ihr Auto aufzupassen: "'Negrito', rief sie ihn herbei, und auf die Vorhaltung meiner Frau, der kleine Schwarze und seine Umgebung könnten sich doch beleidigt fühlen, reagierten beide mit entwaffnendem Lächeln. 'Pero son suaves, los negritos', erwiderte unsere spanische Freundin - 'Diese Negerlein sind doch so lieb'" (Scholl-Latour, Die Angst des weißen Mannes 2009, 443).

Die USA dagegen sind das Land, in dem Öffentlichkeit und Medien wie nirgends sonst von den Tabus der Politischen Korrektheit geprägt sind und dennoch kommt es hier immer wieder zu rassistischen Gewalttaten. Das macht, man kann die Mentalität der Menschen und die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht durch Sprachverbote ändern.

© J.Quack — 30. März 2024




Josef Quack

Banausie
Joseph Conrad, politisch korrekt zensiert




Joseph Conrad, einer der bedeutendsten Romanciers der Moderne, muß es sich gefallen lassen, daß seine meisterhafte, formvollendete Erzählung Der Nigger von der ‚Narcissus‘ (1897) von den Vollstreckern des politisch korrekten Zeitgeistes verunstaltet, verstümmelt und verfälscht wird. Statt des ursprünglichen, in den Augen der Wächter der Sprachtabus anstößigen Titels wurden in den letzten Jahren drei alternative Formulierungen vorgelegt, die allesamt nicht nur falsch, sondern auch abwegig und unsinnig sind.

Eindeutig schlimmer und anstößiger als das Original ist die Übersetzung von Wolfgang Krege, die 1994 bei Haffmans in Zürich erschienen ist: Der Bimbo von der „Narcissus“. Das umgangssprachliche Wort „Bimbo“, das weder im Duden noch im Wahrig steht, ist ein arges Schimpfwort, das in der Regel als solches gebraucht wird und nur in äußerster Ausnahme ironisch verstanden werden kann, während die Pointe und die feinsinnige Nuance von Conrads Erzählung gerade darin besteht, daß „Nigger“ durchaus mehrdeutig gemeint ist, mit pejorativer und mit positiver Konnotation.

Dann ist in Wikipedia die Ausgabe eines holländischen Verlags verzeichnet, die den recht eigentlich blödsinnigen, dazu noch unbestimmten und grammatisch falschen Titel trägt: The N-word of the Narcissus (2009), denn der Held der Geschichte ist ja kein Wort, sondern ein Mann. Zudem bleibt offen, welches N-Wort denn gemeint ist. Man versteht die Umschreibung also nur, wenn man den originalen Titel kennt! Zur Begründung heißt es, es sei das Ziel, „den Text für moderne Leser zugänglich zu machen“ – als seien die modernen Leser geistig unfähig, den Originaltitel zu verstehen.

2020 kam dann eine deutsche Übersetzung von Mirko Bonné heraus unter dem Titel: Der Niemand von der "Narcissus", die Verdeutschung bekam sogar einen Preis. Sie ist auf geradezu skandalöse Weise irreführend. Sie vergleicht den Neger der Narcissus mit Odysseus und spielt auf die Szene an, in der der griechische Held den zyklopischen Menschenfresser Polyphem überlistet, indem er sich niemand nennt: „Niemand (ουτις; outis) ist mein Name“ (Odyssee 9, 366). Mit dem listen- und tatenreichen Odysseus, der übergroßen Mythengestalt der Weltliteratur, aber hat James Wait, der eigensinnige, aber geistig doch schlichte, körperlich schwache Matrose Conrads, nicht das geringste zu tun. So verführt die Ideologie der politischen Korrektheit zur literarischen Hochstapelei, zu einem grotesk unsinnigen und unpassenden Vergleich voller falscher Assoziationen.

Ich habe diese neuen Fassungen der Erzählung natürlich nicht überprüft und nachgeschaut, wie sie im Fluß des Textes die für politisch korrekt indoktrinierte Menschen anstößigen Bezeichnungen jeweils umgehen und ersetzen. Wie dem aber auch immer sei, man kann unbesehen feststellen, daß dabei nur Verfälschungen des Sinnes und des Kontextes herauskommen können.

Das Thema und der Sinn der Erzählung werden in der Kurzen Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur von W.F. Schirmer und A.Esch in einem Satz etwas großzügig wiedergegeben: „Es ist eine Schiffsgeschichte mit der unvergeßlichen Figur des vom Tode gezeichneten Negers James Wait, der zugleich Meuterei und Gemeinschaftssinn der Schiffsbesatzung hervorruft.“ (München 1977, 351) Denn der schwarze Matrose ist allenfalls weitläufig der Anlaß für den Aufruhr einiger Seeleute.

Damit ist aber klar und deutlich gesagt, daß die Mannschaft James Wait, dem „schwarzen Gentleman“, wie er seinesgleichen nennt, ambivalente Gefühle entgegenbringt – sie schätzen ihn und sie fürchten und hassen ihn. Beides, Abscheu und Mitleid kommt in der Szene zur Sprache, wo der aufrührerische Matrose Donkin Wait besucht: „Und Donkin, der das Ende des verhaßten Negers aufmerksam beobachtete, fühlte, wie sich bei dem Gedanken, daß er selbst eines Tages dies alles durchstehen müsse – genauso vielleicht -, quälende Angst mit beklemmendem Druck auf sein Herz legte. Seine Augen wurden feucht. ‚Armer Kerl‘, murmelte er.“ (Der Nigger von der Narcissus. Dt. Ernst Wagner. Frankfurt 1978, 177).

Zu diesem Zitat wäre zweierlei zu sagen. Donkin ist eine der übelsten Figuren der Geschichte und doch zeigt er hier menschliche Regungen. D.h. Conrad vermeidet jede Schwarzweißzeichnung der Personen. Sie alle haben vorzügliche und eher schlechte Eigenschaften. Zweitens, er erklärt das menschliche Mitleid durchaus im Sinne Schopenhauers: Wir empfinden mit anderen Mitleid, weil wir in ihrem elenden Schicksal unser eigenes Schicksal erkennen.

Die Zuneigung zu Wait zeigt sich nirgends überzeugender als in der Szene, wo die Mannschaft bei heftigstem Sturm und bei halbüberflutetem Schiff unter eigener Lebensgefahr versucht, den kranken Schwarzen aus seiner verschlossenen Kabine zu befreien. Die emotionale Distanz zu ihm hat aber nichts mit seiner Hautfarbe zu tun, sondern mit dem Umstand, daß er im Sterben liegt, und Tod und Sterben das letzte sind, was die abergläubischen Matrosen ertragen können.

Zur Bedeutung dieser „Geschichte von der See“, zu dem rhetorischen Pathos, mit dem Conrad die unsterbliche See als Ort der moralischen Bewährung des Mannes feiert, will ich nichts weiter sagen. Im Kontext der ungewohnt feierlichen Rede aber verliert der umstrittene, mehrdeutig gebrauchte Ausdruck jede abfällige, inhumane, diskriminierende Bedeutung, ist er doch unüberhörbar auch mit "Gentleman" verbunden.

Jeder Leser aber, der halbwegs bei Sinnen ist, versteht ohne weiteres, daß die Titelbezeichnung ambivalent gemeint und insofern gerechtfertigt ist, weil sie die zwiespältige Haltung der Schiffsbesatzung gegenüber dem schwarzen Matrosen in seiner Lage genau wiedergibt. Ambivalente Darstellung ist aber ein Kennzeichen der modernen Literatur und die politisch Korrekten ignorieren eine zentrale Einsicht der Moderne.

Der eigentliche Skandal besteht letztlich aber nicht in dem sektiererischen Eifer der politisch Korrekten, ihrer unbestreitbaren Kulturbanausie, sondern darin, daß es ihnen gelungen ist, die öffentliche Meinung nahezu unwidersprochen zu beherrschen. Daß Leute dieses beschränkten Geistesformates die Öffentlichkeit weithin bevormunden können, ist eine unrühmliche Tatsache der Jetztzeit, die darauf wahrlich nicht stolz sein kann.

© J.Quack — 8. Mai 2023


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