Josef Quack

Henscheids Problem

Anmerkungen zu seinen Denkwürdigkeiten (2013)



Nichts ist trostloser als ein Humor,
den man aus Humorlosen kitzelt.
Die Welt ward zu Tode gewitzelt
und trister denn je zuvor.

Ch. Morgenstern

Bespucken ist keine Kunst, sondern eine Unart.

J.Q.

In dem Klappentext des Buches, das mir zufällig in die Hände gefallen ist, behauptet Gustav Seibt, Henscheids Werk sei „das imponierendste Œuvre humoristischer Literatur in der deutschen Nachkriegszeit“. Ich könnte von mir nicht behaupten, daß ich alle Bücher des Autors gelesen hätte; ich habe nur einen Roman, ein paar Glossen und seine Denkwürdigkeiten gelesen. Dabei muß ich weiter einschränken, daß mich die unmündige Kindheit des Mannes herzlich wenig interessiert — was er im späteren Alter geschrieben hat, ist zwar nicht denkwürdig, aber bedenklich genug. Mir ist jedoch in dem, was ich gelesen habe, keine Stelle aufgefallen, die durch Humor im eigentlichen Sinne gekennzeichnet wäre.
Witzige Stellen oder Stellen, die anzeigen, daß sie witzig gemeint sind, gibt es natürlich jede Menge, aber Passagen von echtem Humor wie bei Jean Paul, der den Begriff ein für allemal bestimmt und beschrieben hat, oder wie bei Karl Kraus, Tucholsky, Alfred Polgar, Robert Neumann oder dem von Henscheid verachteten und beschimpften Heinrich Böll habe ich in dem, was ich von Henscheid gelesen habe, nicht entdecken können. Humoristisch kann man ihn auf der erwähnten, zugegeben recht schmalen Textbasis allenfalls nur in einem trivialen oder pejorativen Sinn nennen, in dem Sinne, wie man die Reimereien Eugen Roths und ähnlicher Verseschmiede oder die Hervorbringungen der überflüssig vorhandenen Kabarettisten humoristisch nennen kann. Bezeichnenderweise will Henscheid denn auch Eugen Roth in seinem Sinne als Autor aufgewertet wissen.
Wenn man seine Manier der Charakterisierung übernehmen wollte, dann müßte man von ihm sagen, er sei ein primärer Schimpfer und Blödler, ein Polemiker, der glaubt, es genüge, eine Serie absprechender, verfluchender und beleidigender Schimpfwörter auszusprechen, um einen Autor oder Politiker oder eine sonstige Figur der Öffentlichkeit in ihrer Nichtswürdigkeit zu kennzeichnen. Dabei übersieht der Mann mindestens drei Punkte. Er bemerkt nicht, daß eine auf Personen bezogene Polemik nur überzeugen kann, wenn sie auch sachlich begründet ist. Seine herabsetzenden, immer gegen bestimmte Personen gerichteten Injurien sind ihm Selbstzweck, meist im einzelnen kaum belegt oder überzeugend untermauert. Wenn er sich an diese argumentative Faustregel gehalten hätte, wäre er vielleicht auch nicht in den Verdacht geraten, daß er ein Antisemit sei.
Zweitens scheint er nicht zu wissen, daß es eine durchaus respektable Kunst des Schimpfens gibt, wofür in unseren Gegenden, außer dem Klassiker dieser Ausdrucksgattung Schopenhauer und seinem Verehrer Karl Kraus, etwa Robert Neumann die schönsten Beispiele geliefert hat; auch bei Thomas Bernhard und Rolf Dieter Brinkmann finden sich ein paar Musterstücke der erwünschten Gattung (cf. J.Q., Figuren der Polemik). Kipling wäre ein Beispiel aus anderen Gegenden, während Céline wohl eher für den ganz und gar irrationalen Rausch oder die Schaum auf den Lippen erzeugende Art des Schimpfens steht.
Drittens, da Henscheid sich gerne auf Karl Kraus beruft: Wenn Kraus eine politische Figur oder einen Autor einen Schuft nennt, dann bringt er zum Beweis seiner Anschuldigung eine erdrückende Menge realer Fakten und moralischer und politischer Verfehlungen vor. Es ist für Kraus typisch, daß seine Polemiken so geartet sind, daß sie sowohl literarisch aufs genaueste geformt als auch juristisch niet- und nagelfest formuliert sind; d.h. sie halten einer gerichtlichen Überprüfung stand, was man von Henscheids Beschimpfungen erwiesenermaßen ja nicht sagen kann.
Was Kraus angeht, so steht es natürlich jedem frei, sich auf ihn zu berufen oder ihn zu seinem schriftstellerischen Vorbild zu erwählen. Ich habe mich ein wenig mit seinem Werk beschäftigt, die 36 Jahrgänge der Fackel alle gelesen, exzerpiert und kommentiert; was aber Henscheid betrifft, so kann ich nur sagen, daß er mit seinen zwanghaften, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ausgespuckten Witzeleien doch wohl eher an Alfred Kerr erinnert als an das verehrte Wiener Vorbild. Unser Mann scheint nichts von dem zu kennen, was Kraus über die jungen Autoren seiner Zeit geschrieben hat, die ihn nachzuahmen und ihm nachzuschreiben versuchten.
Aus Henscheids Autobiographie wird nicht ganz klar, was er eigentlich Hans Wollschläger vorzuwerfen hat. Man erkennt nur, daß er nicht fähig ist, die überragende Leistung der Ulysses-Übersetzung anzuerkennen, die doch das sogenannte humoristische Œuvre unseres Autors zu einem guten Teil aufwiegt, wenn man von dem Teil, den ich kenne, auf das Ganze schließen kann. Auch kommt Wollschläger in seinen polemischen Arbeiten Kraus weit näher als Henscheid. Überdies ist ihm offensichtlich die gar nicht genug zu schätzende theoretische Leistung entgangen, daß Wollschläger als erster den genauen Sinn der subjektivistischen Methode der Polemik bei Kraus erkannt und einleuchtend beschrieben hat. Wenn Kraus in der ersten Person Singular spricht, dann redet er stellvertretend für alle vernünftigen Menschen, und er kann diesen pathetischen Anspruch auch glänzend rechtfertigen.
Genau darin aber besteht Henscheids Problem, daß ihm diese essentielle Gabe des genuinen Polemikers vollständig fehlt. Er teilt uns seine privaten Marotten und Idiosynkrasien mit, ohne im geringsten sagen zu können, was uns das alles angehen soll.
Mitunter übernimmt er biblische Redeweisen, etwa: Wahrlich ich sage euch …, was selbstverständlich ironisch gemeint, tatsächlich aber nur albern ist. Der Komiker merkt nicht, daß es eine Ironie gibt, die nur von unheilbarer Naivität und von Unverstand zeugt.
Allerdings, was Henscheid gegen das psychoanalytische Buch der Mitscherlichs über die unterlassene Trauer der Deutschen nach dem Ende des NS-Regimes einzuwenden hat, scheint nach den hier referierten Passagen durchaus plausibel und überzeugend zu sein. Die Grenze seiner geistigen Bildung zeigt sich hier aber darin, daß ihm der entscheidende, im Endeffekt wahrlich vernichtende Vorwurf, den man gegen jene Studie erheben kann, anscheinend gar nicht in den Sinn gekommen ist, der Einwand nämlich, daß die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse eine überaus fragwürdige Sache ist, was wiederum als einer der ersten niemand anders als Karl Kraus erkannt hat.
Außerdem ist Henscheid entgangen, daß es zuerst Romanciers des Nachkriegs waren, die auf das Motiv der versäumten Trauer der Deutschen aufmerksam gemacht haben: Wolfgang Koeppen, in Tauben im Gras (cf. J.Q., Wolfgang Koeppen, S.129), und Heinrich Böll, in Billard um halbzehn (cf. J.Q., Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, S.68). Von Koeppen und Böll haben die Mitscherlichs, wie sie zwar nicht konkret, aber doch implizit und pauschal zugeben, dieses Motiv dann übernommen und auf ihre unselige Art ausgesponnen.
Es lohnt nicht, auf weitere Einzelheiten dieser kleinteilig aufgemachten feuilletonistischen Autobiographie, die mich keinen Augenblick richtig fesseln konnte, sondern auf weite Strecken nur langweilte, näher einzugehen. Viele Bemerkungen machen den Eindruck — wenn man sie denn beim Wort nehmen darf, was keineswegs immer klar ist, da die Grenze zwischen fingiertem und angeborenem Blödsinn in diesem Œuvre fließend ist —, als entstammten sie der Phantasie eines schwachen, zumindest aber ungewöhnlich kleinen Geistes, im moralischen und im intellektuellen Sinn. So die in ihrer Albernheit nicht mehr zu überbietende, halb spaßhaft, halb im Ernst vorgebrachte Meinung, die von dem komischen Helden dann übernommen wurde, er sei der Nachfolger Adornos, so auch die lachhaft überhebliche Art, wie er Habermas abfertigt, u.d.m.
Falsch ist die Behauptung, daß die freundschaftliche Beziehung zwischen Wehner und Helmut Schmidt ebenso verlogen gewesen sei wie die angeblich freundschaftliche Beziehung zwischen Wehner und Brandt. Schmidt hat in seinen Memoiren vielmehr bestätigt, daß Wehner sich ihm gegenüber, als er Kanzler war, immer loyal verhalten habe. — Das ist eine nachprüfbare historische Aussage, die der meinungsfreudige Komiker mit keiner einzigen Silbe seines Statements widerlegt hat.
Daß unser Autor nicht erkannt zu haben scheint, daß man einen Politiker nicht mit Witzchen und Karikaturen, also ästhetisch, sondern nur mit politischen, allenfalls noch mit moralischen oder rechtlichen Argumenten wirkungsvoll bekämpfen kann, sei nur am Rande vermerkt.
Schließlich noch ein grammatischer Fehler, der mir zufällig aufgefallen ist. Es heißt da im Zusammenhang der Kritik an seinem langjährigen, mit Inbrunst gepflegten Haßobjekt Reich-Ranicki: „Wie die Katze um den heißen Brei kroch der inzwischen überwiegend im Fernsehfach tätige Papst und Großmogul um den heißen Typen, mich: mich im Zuge mehrerer kleiner Spaziergänge im Frankfurter Dichterviertel zur Räson zu zwingen und zur Renegation zu veranlassen.“
Die Enthüllung, daß Reich-Ranicki in späteren Jahren seinen wutschäumenden Kritiker umstimmen und für sich gewinnen wollte, ist die eigentliche Sensation dieser Autobiographie, und Henscheid kann zwar nicht die Spaziergänge urkundlich belegen, doch kann er laut dem Text einen ähnlich intendierten Brief von dem Lieblingsobjekt seines Spottes vorweisen. Dazu kann man nur sagen: ein merkwürdiges Verhalten des Kritikers, das ganz und gar nicht seinem Image entspricht.
Freilich enthält die Schilderung einen grammatischen Fehler, der einen zwar nicht an der Glaubwürdigkeit der Schilderung im ganzen zweifeln, aber doch ein wenig stutzen läßt. Henscheid konstruiert den Akkusativ von „Typ“ als „den Typen“, was falsch ist. Zwar kann man im Genetiv statt „des Typs“ auch „des Typen“ sagen, aber nicht im Akkusativ, der bisher immer noch „den Typ“ lautet.
Dem sei noch angefügt, daß Henscheids erste Attacke auf den Kritiker, die er wegen eines Kraus geltenden Verrisses unternahm, wohl auf ein doppeltes Mißverständnis zurückging. Er hat nicht verstanden, daß der Rezensent Kraus nicht verstanden hat. Er hat offenbar nicht gemerkt, daß Reich-Ranicki die aus kunstvoll verschlungenen "Panzersätzen" bestehende Prosa von Kraus, die am höchsten entwickelte Kunst der Prosa, die wir im Deutschen haben, einfach nicht verstehen konnte. Außerdem konnte er Kraus nicht verzeihen, daß er die billige Lyrik Heines als billig bezeichnet hatte. Es ist aber ein sinnloses Unterfangen, mit einem Blinden über die Farben eines Gemäldes zu streiten. — Der Ausdruck "Panzersätze" stammt von Elias Canetti, mit dem der Kritiker ebenfalls nicht zu Rande kam (cf. J.Q., Elias Canetti und Karl Kraus).
Übrigens fällt auf, daß der komische Komiker die keineswegs immer mustergültigen, keineswegs immer von Geist sprühenden oder von sachlichen Einsichten strotzenden Artikel jener Literaturredakteure der FAZ, die ihm damals gewogen waren, mit seinem essigsauren Spott verschont, was natürlich die Glaubwürdigkeit der Anrempelungen, die er anderen Figuren des Literaturbetriebs zuteil werden läßt, wiederum in einem fragwürdigen Licht erscheinen läßt. Glaubwürdig ist bekanntlich eine Kritik nur dann, wenn sie alle ähnlichen Fälle betrifft und keine Ausnahmen und egoistischen Rücksichten zuläßt. Daß der sonst so beredte Besprecher seiner Zeitgenossen über den allerdings auch vorher schon bekannten Zynismus, mit dem Schirrmacher seine Karriere verfolgte, kein weiteres Wort sagt, spricht Bände — gegen den Autor.
Um die unsystematischen Anmerkungen und Reflexionen zu den vorliegenden, eher hochfahrenden als hochgemuten Denkwürdigkeiten abzuschließen, die einen auf ganz andere Gedanken bringen, als der Autor erhofft haben kann, so sei nur noch gesagt: Gewiß ist es nötig und aufs innigste zu wünschen, daß von Zeit zu Zeit ein kritischer Herkules kommt und den Stall des Literaturbetriebs respektive der gerade für wichtig gehaltenen Literatur ausmistet. Daß es hierbei nicht immer zimperlich und höflich gesittet zugehen kann, versteht sich von selbst. Doch sollte jener Herkules, so lautstark und großmäulig er auch auftreten mag, am Ende nicht selbst mehr Mist hinterlassen, als er beseitigen konnte.

J.Q. — 16. Jan. 2016

© J.Quack



PS

Dieser Tage blätterte ich zufällig in den Sudelblättern (1987) Henscheids und in der Kulturgeschichte der Mißverständnisse (2002), deren Co-Autor Henscheid ist, und mußte feststellen, daß er noch naiver ist, als ich angenommen hatte.
Jürgen Habermas hatte in einem Leserbrief geschrieben, Henscheid sei ein Wirrkopf. Darauf erwidert Henscheid in einem privaten Brief, Habermas sei „ein Schwall-, ja Schmarrkopf“.
Habermas hatte Henscheid vorgeworfen, daß er die deutsche Sprache nicht beherrsche. Darauf antwortet Henscheid, dieser Vorwurf sei „nur noch drollig“, wobei er selbstverständlich voraussetzt, daß er selber, nicht jedoch Habermas die deutsche Sprache beherrsche. Pueriler kann man ja kaum auf solche Vorwürfe reagieren. Henscheids Brief an Habermas ist ein Dokument der intellektuellen Hilflosigkeit; er meint, solche Anschuldigungen könne man mit Beschimpfungen widerlegen.
Wie aber ist es um die Vorwürfe des Philosophen gegen den Schriftsteller wirklich bestellt? Sind sie sachlich begründet?
Ad 1. Was Henscheids kulturhistorisch gemeinte Artikel angeht, so handelt es sich meistens um eine Mischung von Kraut und Rüben, um Sammelsurien von Wichtigem und Nichtigem, von Nützlichem und Läppischem, von Wissenswertem und Belanglosem.
Also ist der besagte Vorwurf gegen den Hervorbringer dieser Artikel über Faits divers begründet.
Ad 2. Henscheid spricht von den „beiden ehelichen Autoren“, was heißen soll, daß die beiden Autoren miteinander verheiratet seien — was aber nicht die Bedeutung von „ehelich“ ist. Denn eheliche Kinder sind nicht dasselbe wie verheiratete Kinder.
Überdies kultiviert er eine fatale Vorliebe für schiefe Metaphern. So schreibt er zum Beispiel, den kryptischen Evangelien reichten die Unklarheiten und Differenzen von biblischem und historischem Jesus die Hand – es ist wohl kaum möglich den genauen Sinn des kryptischen Satzes, von dem ich hier nur die Kernaussage wiedergebe, rational zu rekonstruieren.
Das auffälligste Merkmal seines Stils, neben der eigenwilligen, sinnwidrigen Umdeutung der gewöhnlichen Wortbedeutung, ist sein überladener Satzbau, die Eigenart, daß er zwischen dem Artikel und dem Subjekt eine geballte Ladung von Attributen einschiebt, dann an das Hauptwort eine lange Reihe von Genitivattributen anknüpft, bis er endlich das Verb plus Objekt nennt; das Satzobjekt besteht wiederum aus dem Artikel plus einer Folge von Attributen plus Substantiv plus Genitivattributen. Ein solcher zwölfzeiliger Monstersatz steht vor dem genannten Leserbrief, und derartige ellenlange, aufgeblähte Klammersätze, vollgestopft mit allerlei Sprachschrott, finden sich auf fast jeder Seite des Mannes. Henscheid schreibt einen verkrampften, genauer gesagt, verklumpten Stil. Gutes und korrektes Deutsch ist dies alles ganz gewiß nicht.
Also ist auch der zweite Vorwurf von Habermas gegen Henscheid wohl begründet.
Zuletzt noch ein Wort zu Henscheids notorisch unpassender Berufung auf das Vorbild Karl Kraus.
Henscheid wurde vom Bundesverfassungsgericht verboten, bestimmte Beleidigungen über Heinrich Böll zu wiederholen. — Wie heißt es aber bei Karl Kraus: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten“.
Ein weiterer Grund, daß Henscheid sich nicht auf Karl Kraus als sein Vorbild berufen kann. Daß er es dennoch tut, ist sein privates Mißverständnis, das mit der Kulturgeschichte aber natürlich nicht das Geringste zu tun hat.

J.Q. — 16. Juli 2019

© J.Quack


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