Josef Quack

"Verstummen die Dichter?"
H.G. Gadamer über Lyrik im allgemeinen und Celan im besonderen





Diese Frage hat vor über 50 Jahren Hans-Georg Gadamer gestellt, Autor eines Standardwerkes über hermeneutische Philosophie, d.h. die Theorie des Verstehens und der Textinterpretation. Er beantwortet die Frage, indem er auf den Einfluß hinweist, den die technische Massenzivilisation auf die Sprache der gegenwärtigen Lyrik ausübt, ihre Lakonik und Hermetik, und indem er einige Gedichte Paul Celans interpretiert, der der letzte deutschsprachige Dichter von europäischem Rang war (Gedicht und Gespräch. Franfurt 1990).

Nüchtern betrachtet, müßte man heute auf die Frage, ob die Dichter verstummt sind, antworten, daß Celan keinen literarisch oder geistig ebenbürtigen Nachfolger gefunden hat. Die späteren Dichter bekannten Namens, Peter Rühmkorf, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Jandl, Robert Gernhard, Peter Hacks, Karl Krolow, Ror Wolf, sind schon vor Jahren endgültig verstummt – eine durchaus stattliche Reihe, der aber ebenfalls nichts Vergleichbares gefolgt ist (cf. J.Q., Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit).

Diesem Urteil scheint die Tatsache zu widersprechen, daß in der nächsten Woche in Frankfurt wieder mal „Lyriktage“ stattfinden mit einem vollmundigen Programm und der Ankündigung „bedeutender“ Dichter, von denen mir nur Michael Lentz bekannt ist. Ich würde ihn aber nicht auf eine Stufe stellen mit den vorher genannten Poeten. Doch besagt meine Meinung hier wenig, da es ja doch sein könnte, daß unter den namenlosen, mir unbekannten Autoren tatsächlich nennenswerte Dichter zu hören und zu sehen sein werden.

Dennoch läßt die Ankündigung doch einige Zweifel an der Sache aufkommen. Die Veranstaltung nennt sich „Festival“, was doch bei allem Wohlwollen, das man jeder literarischen Regung in diesen poesiefeindlichen Zeiten entgegenbringen muß, etwas übertrieben scheint. Die auftrumpfende Bezeichnung erweckt den unabweisbaren Eindruck, daß dieses literarische Leben ein „Leben aus der Retorte“ ist, wie Heinrich Böll den künstlich erzeugten und krampfhaft aufrecht erhaltenen Literaturbetrieb seiner Zeit nannte, die doch immerhin einige glanzvolle Namen aufzuweisen hatte. Doch will ich über den Bedeutungsverlust der Literatur nach der Wende hier nichts weiter sagen, ich habe in den Rückschritten der Poesie darüber alles Nötige ausgeführt.

Gadamer, Philosoph und Altphilologe, bespricht aber in der angegebenen Essay-Sammlung vor allem einige deutsche Dichter von unbestrittenem, klassischem Rang. Er ist der dezidierten Auffassung, daß der deutsche Beitrag zur Weltliteratur in der Lyrik besteht. Im einzelnen schreibt er hier über Hölderlin, Stefan George, Rilke, Benn und Celan. Wenn daneben auch zwei Aufsätze über Hilde Domin aufgenommen wurden, so kann man darin wohl nur höfliche oder freundschaftliche Äußerungen des urbanen Philosophen sehen, der den Rang der Autorin wohl kaum überschätzen möchte. Wichtig sind dagegen seine Bemerkungen zur Poetik, zur Semantik und Syntax des dichterischen Wortes, über die Beziehung von Gedicht und Gespräch. In diesem Aufsatz nimmt er die Grundthese seiner hermeneutischen Philosophie auf, daß das Verstehen eines Textes eine Art Gespräch sein sollte zwischen dem Text und dem Leser.

Aus den hier vorgelegten Gedicht-Interpretationen ragt aber wegen seiner geistesgeschichtlichen Brisanz die Besprechung eines Gedichtes von Celan hervor, jenes Gedicht, das der Autor nach seiner Begegnung mit Heidegger über dieses Ereignis geschrieben hat. Es ist eines der berühmtesten Gedichte Celans, und Gadamer ist einer der besten Kenner Celans, eine außerordentliche Konstellation der jüngsten Literaturgeschichte, an die ich kurz erinnern möchte. Daß sich der größte Philosoph seiner Zeit und der bedeutendste deutschsprachige Dichter seiner Zeit begegnen, daß sie jeweils ein lebhaftes Interesse für das Werk des anderen zeigen und ein Gespräch miteinander führen, kommt ja nicht alle Tage vor. Das Gedicht über Celans Besuch auf der Schwarzwälder Hütte Heideggers lautet:

Todtnauberg

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,

in der
Hütte,

die in das Buch
- wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? -,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,

Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,

Krudes, später, im Fahren,
deutlich,

der uns fährt, der Mensch,
der’s mit anhört,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,

Feuchtes,
viel.

Gadamer widerspricht zunächst der Meinung, daß das Gedicht einen „unglücklichen Verlauf des Besuches“ dokumentiere, indem er auf den Wortlaut verweist, der davon nichts wisse (S.105). Die erste Strophe beschreibt die äußere Situation der Begegnung, die Blumen der Wiese, der erfreuliche Anblick der Hütte und ihrer Umgebung mit Brunnen und „Sternwürfel“, der zwar auf ein Ornament des Brunnenpfahls verweist, was der Leser aber nicht wissen müsse. Ihm wird nur bedeutet, daß es sich um ein gutes Zeichen in der Erwartung des Sprechers handelt. Danach wird das Stammbuch der Hütte erwähnt und die Erwartung oder Hoffnung des Dichters, „ob ein Denkender wie dieser vielleicht ein Wort, ein kommendes Wort hätte, ein Wort von einer Hoffnung heute“ (S.106)

In der nächsten Szene wird offensichtlich ein Spaziergang eher metaphorisch angedeutet als näher beschrieben. Es heißt, daß im Hochmoor einzelne Orchideen stehen und es dort keine geebnete Wege gibt. Damit wird dem Leser zu verstehen gegeben, „daß es für die Denkenden, für uns Denkende, keine geebnete Wege gibt“. Die Worte über die Blumen besagen etwas über „die Einzelheit der beiden Spaziergänger, die da zusammengingen und doch jeder einzeln blieben, wie die Blumen, an denen sie vorbeikamen.“ (S.106)

Die folgenden Strophen erklären, daß auf der Heimfahrt des Besuchers manches Unverstandene der Rede des Philosophen nun verständlich wird. Die letzten Worte enthalten ein Fazit: „die Gewagtheit dieses Geh-Versuchs im Ungangbaren. ‚Feuchtes viel‘.“ Die „halbbeschrittenen Knüppelpfade“ erinnern an „Holzwege“ und spielen darauf an, daß „Heidegger nicht beansprucht und nicht vermocht hat, ein kommendes Wort zu sagen“, sondern nur auf gefahrvollem Pfad ein paar Schritte versucht hat. Es ist also „die Beschreibung der gewagten Denkwege dieses Denkers – und wiederum eine Situation, in der wir als Menschen alle heute mehr oder weniger bewußt stehen und die unser Denken nötigt, gewagte Wege zu gehen.“ (S.107)

Fraglos ist in dem Gedicht von der Enttäuschung des Dichters die Rede, der „keine Wandlung in Hoffnung und Helle bei diesem Besuch erfuhr“. Gadamer betont aber, daß diese Verse eines Gelegenheitsgedichts doch nicht nur von biographischer, sondern von allgemeiner Bedeutung sind, das Gedicht „spricht uns alle aus“, wie aus den Hinweis auf die Denkerfahrungen heute unmißverständlich hervorgeht (S.108).

Diese Auslegung versteht das Gedicht als die Beschreibung einer geistig oder existentiell wichtigen oder entscheidenden Begegnung eines Dichters mit einem großen, höchst angesehenen Philosophen. Trotz ihrer Bedeutung wird die Begegnung aber nicht als ein dramatisches, biographisch erschütterndes Ereignis dargestellt, sondern als die Erfahrung des gefahrvollen Charakters eines Denkens, das diesen Namen verdient.

Gadamers Interpretation des Gedichts steht in dem Aufsatz „Im Schatten des Nihilismus“, der zuerst 1989 in Amsterdam in einem englischen Sammelband erschienen ist. In dem gleichen Jahr erschien die neue Vorrede George Steiners zu seiner Heidegger-Monographie, in der er eine Deutung von Celans „Todtnauberg“ vorlegt, die Gadamers Deutung eklatant widerspricht.

Steiner behauptet, aus dem Gedicht gehe „unverkennbar“ hervor, „daß es zu einer betäubenden, seelenzerreißenden Täuschung kam.“ Wir spürten „in ‚Todtnauberg‘ ein schreckliches Schweigen“. Steiner nimmt an, daß Celan ein klärendes, der Katastrophe ethisch angemessenes Wort Heideggers über die Shoah, die Vernichtung der Juden durch Hitler, erwartet hatte und tief enttäuscht wurde, entweder durch Heideggers Schweigen oder durch „triviale Ausreden“: „Ob so oder so, man kann fühlen, daß die Wirkung auf Celan verheerend war.“ (George Steiner, Martin Heidegger. Eine Einführung. Dt. M. Pfeiffer. München 1989, 39).

Was soll man zu dieser Interpretation Celans sagen? Ich meine, daß man hier zweierlei unterscheiden muß. Genau betrachtet, geht aus dem Gedicht weder wörtlich noch durch eine Anspielung hervor, daß Celan von Heidegger eine Auskunft über die Shoah erwartet oder überhaupt eine Frage darüber gestellt habe. Es ist offensichtlich, daß Steiner das Gedicht auslegt, indem er es im Sinne des großen, zentralen, eigentlichen und letztlich einzigen Themas von Celans Dichtung versteht.

Er scheint zu glauben, daß Celan mit Heidegger nur über dieses Thema, das das gesamte Werk des Dichters durchdringt und beherrscht, gesprochen haben kann. Er hält es für undenkbar, daß Celan den Philosophen aufgesucht habe, um ein paar Belanglosigkeiten auszutauschen. Celan kann mit Heideggers nur über die moralisch wichtigste Frage der Zeit gesprochen haben – dies ist offenbar das Vorverständnis, das Steiners Gedicht-Interpretation leitet. Er glaubt nämlich, Paul Celan, neben Primo Levi, sei „der einzige Überlebende des Holocaust, dessen Schriften in einem wahren Maß dem Unaussprechlichen angemessen sind“ (l.c. 38).

Dieser Charakteristik Celans kann man durchaus zustimmen; denn es ist keine Frage, daß der tiefe Ernst und die überlegte, genau berechnete Wortkargheit seiner Dichtung als Antwort auf das geschichtliche Ereignis jener Unmenschlichkeit gedacht und konzipiert sind. Celans auf Erfahrung beruhende Dichtung ist wie das Werk Kafkas unnachahmlich, was übrigens Sartre als erster bei Kafka erkannt hat. Steiners Hypothesen über jenen Besuch bei Heidegger klingen durchaus plausibel. D.h. die Begegnung hätte durchaus so verlaufen können. Doch muß man redlicherweise feststellen, daß seine Vermutungen durch den Wortlaut des Gedichts nicht bestätigt werden.

Celan spricht darin zwar von einer geistigen Enttäuschung, daß seine Erwartung der Denker nicht erfüllt hat, doch deutet das Gedicht zugleich auch an, daß er den Denker nachträglich bis zu einem gewissen Grad verstanden hat. Auch wird darauf hingewiesen, daß diese Art des gewagten Denkens an sich auch gefährlich ist. So Gadamers Deutung, die ich für textnah und glaubwürdig halte.

Schließlich noch ein Wort zu Gadamers Literaturverständnis, das der deutschen Literatur keineswegs in allem gerecht wird. Vermutlich hängt es mit seiner altphilologischen Bildung zusammen, daß er in der Dichtung die Tragödie und die Lyrik bevorzugt und wenig Interesse für den Roman zeigt. Er behauptet: „Wir Deutsche sind nicht ein Volk der großen Erzähler. Selbst Namen wie Hermann Hesse, Thomas Mann oder Robert Musil sind viel zu sehr an die eigentümliche Verfeinerung manieristischer Erzähltechnik gebunden, als daß sie den großen Atem eines naturhaften Erzählertums besäßen.“ (S.91)

Hier wäre zunächst einzuwenden, daß Gadamer sich an einem allzu fragwürdigen Begriff des Erzählens zu orientieren scheint. Was er naturhaftes Erzählen nennt, dürfte ja kaum bei den Autoren zu finden sein, die er nennt und die er den deutschen Romanciers entgegenstellt: Joyce, Proust und Dostojewski, ausgenommen Tolstoi. Jedoch wäre gerade zu der vielgerühmten Einfachheit seines Erzählens mit Vladimir Nabokov zu betonen, daß sie das Ergebnis höchster Kunstanstrengung Tolstois ist.

Vor allem aber fehlt in Gadamers Aufzählung gerade der deutsche Erzähler, der nach Goethe die Weltliteratur am stärksten beeinflußt hat: E.T.A. Hoffmann (cf. J.Q., Künstlerische Selbsterkenntnis. Versuch über E.T.A.Hoffmanns Prinzessin Brambilla.). Auch Heinrich von Kleist wäre zu nennen, dessen Michael Kohlhaas sogar im Stil eines Western verfilmt wurde, was ja wohl ein Zeichen seines außerdeutschen Ruhms und seiner bleibenden Aktualität ist. Daß der Autor Theodor Fontane nicht nennt, hat man fast erwartet, da Fontane der wohl am meisten unterschätzte Autor der deutschen Literatur ist. Daß Hesses Steppenwolf als Ausdruck zeitgenösssicher Geistesart sowohl von Kardinal Ratzinger als auch von einer amerikanischen Jugendbewegung gelesen und hoch geschätzt wurde, scheint Gadamer nicht gewußt zu haben.

Dann aber hat der Philosoph von den Modernen ausgerechnet den berühmtesten und wirkungsvollsten Romancier deutscher Zunge vergessen, Franz Kafka. Schließlich aber scheint Gadamer Joseph Roth und Alfred Döblin nicht zu kennen, bei denen man mit einigem Recht von einem naturhaft scheinenden Erzählen sprechen könnte, hinter dem aber ebenfalls die sorgfältigste künstlerische Mühe steckt. Daß Roth und Döblin erzählerische Naturbegabungen waren, steht außer Zweifel (cf. J.Q., Über Joseph Roths "Hiob").

Döblin hat immerhin den bedeutendsten deutschen Großstadtroman, den bedeutendsten deutschen historischen Roman und den bedeutendsten deutschen Zukunftsroman geschrieben: Berlin Alexanderplatz, Wallenstein und Berge, Meere und Giganten; darin wird übrigens das Abschmelzen der Grönland-Gletscher geschildert, eine inzwischen durchaus aktuelle Sache (cf. J.Q., Geschichtsroman und Geschichtskritik. Über Döblins "Wallenstein").

J.Q. — 19. Mai 2023

© J.Quack


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