Gemeint ist die Geschichte der USA (2021) des Historikers Bernd Stöver. Sie hat zwar von einigen Fachkollegen eine ziemlich harsche Kritik erfahren. Doch möchte auch ich einige Fehler und Irrtümer nennen, die mir aufgefallen sind, obwohl ich nicht systematisch danach suchte. Von einem Historiker wird im Idealfall verlangt, daß er sowohl die geschichtlichen Ereignisse plausibel darstellen, wie historische Trends erkennen und Argumente und Theorien formulieren kann, die das Geschehen zu erklären vermögen.
Stöver verschmäht die strikt chronologische Darstellung, und seinen erklärenden Kapiteln fehlt die Kraft der theoretischen Durchdringung der Ereignisse. Kurz gesagt, er kann weder so gut erzählen wie Golo Mann, noch so souverän die relevanten Ereignisse überblicken und theoretisch einordnen wie Henry Kissinger. Vor allem aber fehlt ihm der Sinn für das Wesentliche, die Trivialkultur Amerikas ist ihm wichtiger als die echten Denker und Dichter des Landes. Seine trocken, umständlich geschriebene Darstellung tischt tausenderlei Einzelheiten auf und vergißt das Entscheidende zu nennen. In der Wissenschaft kommt es aber nicht auf die wahllose Sammlung von Wahrheiten an, sondern nur auf die Wahrheiten, die für die Sache relevant sind (K. Popper, Vermutungen und Widerlegungen. 2000, 336). Man kann Stövers Buch kaum eine wissenschaftliche Arbeit im strengen Sinn nennen.
♦ Obwohl es zu erwarten war, daß der Autor sich in seinem Stil der Zensur der politischen Korrektheit unterwerfen würde, bleibt festzustellen, daß dabei einiges merkwürdig ist. Er spricht zwar unmißverständlich von den Indianerkriegen mit dem Ziel der Ausrottung der Indianer, die er mit vollem Recht einen Völkermord nennt, doch bevorzugt er sonst den Ausdruck „indigene Bevölkerung“, also die eingeborenen Bewohner des Landes. „Indigene Bevölkerung“ ist aber ein unbestimmter Begriff – er wirft immer die Frage auf, wer denn diese Bevölkerung ist, worauf man antwortet: die Indianer. So spricht man dieses Wort nicht aus, man muß es aber denken, wenn man „indigene Bevölkerung“ verstehen will.
♦ Ein einziges Mal kommt in diesem Wälzer von 784 Seiten das Wort "Neger“ vor und zwar in dem Zitat des Gesetzes zum Verbot des Sklavenimports vom März 1807 (S.203). Sonst bevorzugt der Autor „Schwarze“ oder „Afroamerikaner“. Daß der Sprecher der Bürgerrechtsbewegung, Martin Luther King, selbst unbefangen von Negern sprach, scheint Stöver nicht gewußt zu haben. Wie dem aber sei, dadurch daß er diese Bezeichnung, die engstens mit der Sklavenhaltung und dem amerikanischen Bürgerkrieg verbunden ist, strikt vermeidet, bekommt seine Darstellung etwas Steriles, Keimfreies, Distanziertes, nahezu Abstraktes. So nützlich die Statistiken auch sind, sie können die atmosphärische Schilderung heftiger Konflikte des Rassenhasses nicht ersetzen. Hier kann man wohl an das Wort von Reinhart Kosselleck, des Theoretikers der Geschichtsschreibung, denken, daß politische Korrektheit „mit Feigheit weithin identisch ist“ (Brief an E.Wickert, 29.5.1998).
♦ Übrigens kann man den Glauben dieses Sozialhistorikers an den Wahrheitsgehalt von Umfragen, was wohl eine typisch amerikanische Marotte ist, nur naiv nennen.
♦ Zum blassen, trockenen, gewundenen Stil des Autors, der vollgestopfte Satzklammern bevorzugt, will ich nichts weiter sagen. Erwähnt sei nur „die gefühlte Südstaatenaristokratie“, ein falscher modischer Ausdruck (S.199). Man spricht von gefühlter Kälte, die ein Mensch empfindet, im Gegensatz zur objektiv gemessenen Kälte, was grammatisch und psychologisch durchaus richtig und plausibel ist. Hier ist jedoch gemeint, daß die führende Gesellschaftsschicht der Südstaaten sich als Aristokratie betrachtete, sie wurde aber nicht als solche gefühlt.
♦ Stöver, um sachliche Themen zu besprechen, erwähnt den Marshall-Plan en passant (S.512), ohne auf diese Unterstützungsaktion und ihre eminente Bedeutung einzugehen; sie schuf die Grundlage für die amerikanisch-europäische Bündnispolitik für Jahrzehnte.
♦ Er schreibt über den Kalten Krieg (1947-1991), „Am Rande des Abgrunds“, und verliert kein Wort über den Höhepunkt des Kalten Krieges, die Kuba-Krise vom Oktober 1962.
♦ Er erwähnt en passant Chrustschows Idee der friedlichen Koexistenz (S.509), nicht aber dessen Berlin-Ultimatum und seine Rolle in der Kuba-Krise. Sein Name kommt übrigens im Personenregister nicht vor, das überhaupt lückenhaft ist.
♦ Statt dieses welthistorischen Ereignisses erwähnt er ein nebensächliches Faktum, samt einer unzulänglichen Erklärung, die mißglückte amerikanische Invasion Kubas in der Schweinebucht 1961, die unter anderem an der fehlenden Luftunterstützung gescheitert sei (S.713). In Wirklichkeit ist das Unternehmen vor allem deshalb gescheitert, weil es schlecht vorbereitet war und zum Teil auf falschen Informationen über die Ortsverhältnisse beruhte (T.Weiner, CIA. 2012, 240ff.).
♦ Bekanntlich war der angebliche Beschuß amerikanischer Schiffe durch Nordvietnamesen vor Tonking im August 1964 die Begründung für die Regierung Johnson, sich am Krieg in Indochina mit eigenen Kampftruppen zu beteiligen. Dazu bemerkt Stöver, der „Zwischenfall im Golf von Tonking“ sei „möglicherweise zum Teil inszeniert“ worden (S.501). Heute steht aufgrund amtlicher Dokumente fest, daß der Zwischenfall tatsächlich von den Amerikanern absichtlich inszeniert worden war (Weiner S.329f.).
♦ Der Autor tischt dann die alte Mär wieder auf, daß Kennedy gegen Nixon den Wahlkampf deshalb gewonnen habe, weil er „medial noch wesentlich geschmeidiger wirkte und sich attraktiver präsentierte“ (S.579). In Wirklichkeit hat Nixon die besagte Fernseh-Debatte aus handfesten politischen Gründen verloren. Kennedy konnte den Eindruck erwecken, daß er gegen Castro und den Kommunismus entschiedener vorgehen würde als Nixon, der als Vizepräsident an die Geheimhaltung gebunden war und über entsprechende Regierungspläne nichts sagen durfte (H. Kissinger, Memoiren 1968-1972. 1979, 674f.) (cf. Exkurs über Wahlen und Fernsehen).
♦ Zahlreich sind die Informationslücken in dieser „Geschichte“. Watergate wird öfter erwähnt, aber niemals erklärt, ebenso wenig wird berichtet, worum es in der Sues-Krise von 1956 ging. Das vieldiskutierte Abkommen zur Abrüstung, SALT, das während des Kalten Krieges immer auf der politischen Tagesordnung stand, kommt in diesem Buch nicht vor (SALT: Strategic Arms Limitation Talks; Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen).
♦ Von Mao heißt es, er habe „immer wieder seinen ausdrücklichen Protest gegen die Annäherung an den Erzfeind USA angemeldet“ (S.608). Das ist aber nicht mal die halbe Wahrheit. Denn die Gespräche Maos mit Richard Nixon, Henry Kissinger und Gerald Ford zeigen doch eindringlich, daß Mao die politische Beziehung zu den Vereinigten Staaten nicht nur geduldet, sondern kräftig befürwortet hat und zwar aus geopolitischen Gründen, als Ausgleich zu dem gespannten Verhältnis Chinas zu Moskau.
Nachdem es 1969 zu militärischen Zwischenfällen am Ussuri zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China gekommen war, gab Mao einem westlichen Journalisten im Oktober 1970 ein Interview, in dem er den amerikanischen Präsidenten zu einem Dialog aufforderte und erklärte: „Zwischen Chinesen und Amerikanern brauche es keine Vorurteile zu geben. Gegenseitiger Respekt und Gleichheit seien möglich.“ Freilich kam das Interview den Regierenden in Washington damals nicht sofort zu Gesicht, erst im Dezember 1970 kam es zwischen den beiden Regierungen zu ersten Kontakten, die schließlich zu den genannten Gesprächen führten.
Kissinger nennt die neuen chinesisch-amerikanischen Beziehungen eine „Art Quasibündnis, das aus den Übereinkünften erwuchs, die sich (im Februar und November 1973) bei den Gesprächen mit Mao ergaben“ (Kissinger, China 2011, 237ff.; 288). Man sieht, über dieses weltpolitische Thema wird man von Stöver ungenügend informiert, um dessen Versagen höflich auszudrücken.
♦ Helmut Kohl wird zweimal erwähnt: anläßlich seines Besuchs des Soldatenfriedhofs in Bitburg und anläßlich eines Interviews, in dem er Gorbatschow in Fragen der Propaganda mit Goebbels verglichen hatte (S.514). Zu den Hintergründen und den Folgen dieses Interviews aber sagt Stöver kein Wort. Es handelte sich um ein Interview mit dem Nachrichtenmagazin Newsweek. Kohl hatte aber mit dem Vergleich nicht die Absicht, Gorbatschow zu verletzen. Sein Regierungssprecher und sein Mitarbeiter Eduard Ackermann versuchten vergeblich, das Magazin zu bewegen, die fragliche Stelle aus dem Interview zu entfernen. Horst Teltschik, Kohls außenpolitischer Berater, tat dann alles, um die Sache gegenüber dem sowjetischen Botschafter richtig zu stellen, und bei Kohls Besuch in Moskau ein Jahr später, war jede Mißstimmung zwischen ihm und Gorbatschow beseitigt (E. Ackermann, Mit feinem Gehör. 1994, 265). Daß Kohl diesen Wandel durchführen konnte, scheint mir eine seiner größten diplomatischen Erfolge zu sein.
♦ In Stövers Abschnitt über die deutsche Einheit aber kommt der deutsche Kanzler der Einheit, der die einmalige Chance der Wiedervereinigung erkannt und entschieden genutzt hat, nicht vor. Der Autor hat nicht erfaßt, daß es in erster Linie eine Aktion der deutschen Politik und nicht der amerikanischen Regierung war. Der amerikanische Botschafter in Bonn, Vernon A. Walters, war entschieden der Ansicht, daß die Freiheit und Einheit Deutschlands in erster Linie eine Sache der Deutschen sei, die hier den Vortritt hätten, und die Vier Mächte sollten erst danach in Aktion treten, um die Sache zu „besiegeln“ (H. Teltschik, 329 Tage. Innenansicht der Einigung. 1991, 33).
♦ Man hat Stöver vorgeworfen, daß er den bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, William Faulkner, nicht genannt habe. Mit dem gleichen Recht kann man den Autor kritisieren, weil er Vladimir Nabokov nicht erwähnt hat, einen Einwanderer, der als Schriftsteller mindestens so bedeutend ist wie Faulkner, den er als Prosakünstler sicher übertrifft. Er hat die Erfahrungen und Mißverständnisse des Fremden in Amerika mehrmals geistreich beschrieben.
Der Autor zitiert die spöttische Kritik Mark Twains an der Entdeckung Amerikas (S.12f.). Er erwähnt aber nicht den wüsten, ungebremsten Haß Mark Twains gegen die Indianer (J. Hembus, Western-Geschichte. 1981, 335f.). Nicht genannt werden auch Dashiell Hammett und Raymond Chandler, die Pioniere und Vertreter des modernen realistischen Detektiv-Romans. Doch verzichte ich darauf, Stövers Mängel in der Literatur- oder Film-Sparte zu untersuchen, es genügt, auf seine Fehler auf politisch-historischem Gebiet hinzuweisen.
♦ Als letzten Punkt wäre hier zu bemerken, daß der jüngsten amerikanischen Geschichte seit dem Ende des Kalten Krieges 1991 ganze hundert Seiten von sieben hundert Seiten gewidmet sind, entschieden mehr, als der Bedeutung dieser Epoche entspricht. Ein weiterer Beleg, daß dieser Historiker keinen Blick für das hat, was wichtig ist oder nicht, und eine Bestätigung dafür, daß Historiker gerne ihre Gegenwart überschätzen.
♦ Auf der Rückseite des Buches liest man ein Lob eines Rezensenten, der das Werk im übrigen aber auch scharf kritisiert hat. Ein Klappentext aber, der nur das Lob einer Besprechung anführt, ihre Vorbehalte aber verschweigt, ist Schwindel.
Die Lektüre der politischen und historischen Bücher Kissingers ist ein seltener intellektueller Genuß. Die Lektüre dieser Geschichtsdarstellung ist eine schwer zu ertragende Pein. Nach Brecht lautet ein Grundsatz der Prosakunst, daß die Darstellung einer Verwirrung keine verwirrte Darstellung sein sollte. Analog sollte die Darstellung von Banalitäten selbst nicht banal sein.
Stöver hat eine Vorliebe für die populären und trivialen Seiten der amerikanischen Lebensweise, die er ohne weiteres als Kultur bezeichnet. Er hat aber nicht die Fähigkeit, die trivialen und banalen Gegenstände dieser Lebensweise in einem Stil zu beschreiben, der nicht trivial und banal wäre, sondern vielleicht sogar interessant. Über etwas Belangloses läßt sich nichts Relevantes sagen, hat ein kluger Mann mal behauptet. Dieses Geschichtswerk bestätigt das Bonmot. Wenn dieses Werk typisch ist für die akademische Geschichtsdarstellung, dann ist sie ein Hort der Langeweile.