Entertainer sind keine Intellektuelle.
Nach einer vernünftigen Maxime der Literaturkritik soll man Bücher, die nichts taugen, grundsätzlich überhaupt nicht besprechen — es sei denn, an ihnen lasse sich ein Exempel statuieren, eine typische Zeiterscheinung beschreiben oder ähnliches dieser Art. Das vorliegende Buch von Roger Willemsen, das mir zufällig in die Hände fiel, gehört in diese Sparte. Es ist übrigens ein ungelesenes Widmungsexemplar, was denn doch auf die nicht geringe Vernunft des Vorbesitzers schließen läßt. Es bestätigt auf jeder Seite die alte Erfahrung, daß selbst die besten Fernsehbeiträge geistig belanglos und Entertainer keine Intellektuelle sind.
Denn die Reportagen und Porträts der ironisch so genannten Guten Tage, Begegnungen mit Menschen und Orten (2004), sind offensichtlich entsprechenden Fernsehsendungen und TV-Auftritten nachgezeichnet. Mögen die Filmsequenzen noch einen gewissen Unterhaltungswert besessen haben, Willemsens Beschreibungen dieser Auftritte und Interviews können das Bild nicht ersetzen, mit anderen Worten, sie sind trocken und langweilig. Und dies, obwohl sie von einem Autor stammen, der als einer der wenigen Talkmaster und Moderatoren galt, die ein fehlerfreies Deutsch sprechen konnten.
Willemsen bevorzugt Stichworte, Aufzählungen, Wiedergabe von Impressionen, kurzgefaßte Wertungen, flockig hingeworfene Reportageskizzen, unvollendete, angedeutete, insinuierte Personenbeschreibungen, kurze Urteile und Argumente ohne Zusammenhang und logische Fundierung, krampfhafte Paradoxien, Widersprüchliches und Ungereimtes, Horrorszenen, den abgebrühten Leser Schockierendes. Die sprachliche Form wirkt aber trotz der Tabubrüche und Übertreibungen merkwürdig reizlos, das Dargebotene ist überpfeffert und versalzen, die Sinnesempfindung abtötend, der Unterhaltungswert ist insgesamt gleich Null.
Und der Informationswert ist auch nicht viel höher. Man erfährt aus den Interviews mit Margret Thatcher oder Yassir Arafat buchstäblich nichts, was man nicht schon vorher wußte. Wer wie ich nicht eine einzige Fernsehsendung von Harald Schmidt gesehen hat, kann sich nach der Charakterisierung Schmidts durch Willemsen kein Bild von der geistigen Physiognomie des Mannes und seinen diversen Sendungen machen. Man mag gerade dies bedauern, galt Harald Schmidt doch für manchen Feuilletonisten — selbst für weltfremde Philosophen — als das authentische Sprachrohr des gerade herrschenden Zeitgeistes. Deshalb wurde er zum Idol und Vorbild vieler Zeitungsschreiber, die es nicht besser wußten.
Mehr noch, Harald Schmidt wurde in einer Umfrageaktion des ZDF zu den "Hundert größten Deutschen" gerechnet! In dem gleichnamigen, von G. Knoop und P. Arens herausgegebenen Buch (2003) heißt es, er stemme sich mit seiner Fernseharbeit gegen "die grassierende Bildungskatastrophe" — dabei ist jenes Buch selbst ein sprechender Beleg der Bildungskatastrophe. Es zählt zu den hundert größten Deutschen Heino, aber nicht Hölderlin, Heisenberg oder Heidegger, Peter Kraus, aber nicht Heinrich Kleist, James Last, aber nicht Lessing, Helmut Rahn, aber nicht Karl Rahner usw. Dazu kann man mit Ernst Jünger nur sagen: "Man möchte unsere Epoche für besonders stupid halten, wenn man die Idole sieht. Wahrscheinlich ist's aber immer so."
Willemsen will kein Boulevardjournalist sein und macht doch gar nichts anderes als die Vertreter dieser verrufenen Spezies des Klatschjournalismus. Er schreibt über die Idole der Epoche und ihren Anhang. Er präsentiert die soundsovielte Frau Henri Millers und verbreitet sich über dessen Intimleben, ohne ein einziges Wort über Millers literarisches Werk, dessen Bedeutung und bleibende Wirkung zu verlieren. Wie der billigste Enthüllungsjournalist spekuliert er auf die Sensationsgier des Publikums, beschreibt den monströsen Fall eines geistesgestörten Kannibalen unserer Zeit und das Horrorgemälde einer Mißgeburt. Dabei darf auch der Dalai Lama nicht fehlen, der von Hollywood-Stars geliebte Vertreter einer modischen Religiosität. Er wird kurz und unverbindlich mit ein paar erbaulichen Gemeinplätzen vorgestellt.
Ein Sammelsurium, in dessen Kontext alles, das Schreckliche, das Peinliche und das Erhabene, am Ende belanglos wird. So belanglos, wie das von Hans Magnus Enzensberger treffend so genannte Nullmedium selbst, vulgo: das Fernsehen, dem diese Schicksale und Beispiele entnommen sind.
Nebenbei sei zum politischen Einfluß des Fernsehens bemerkt, daß er maßlos übertrieben wird. Als Beispiel der Wirkung hat man oft das Fernsehduell zwischen Kennedy und Nixon 1960 angeführt, das die Wahl zugunsten Kennedys entschieden habe — und zwar wegen dessen photogenen Aussehens im Unterschied zu Nixons unvorteilhaften Aussehens. Doch ist dies ein reines Märchen. Kennedy hatte die Wahl mit hunderttausend Stimmen vor Nixon gewonnen. Es gibt aber keine wissenschaftliche Methode, um die Gründe für diesen statistisch nicht erfaßbaren Vorsprung der Stimmen herauszufinden, wenn die Fehlerquote bei solchen Sondierungen zwei Prozent beträgt. Außerdem entscheidet nach dem amerikanischen Wahlrecht nicht die Stimmenmehrheit landesweit die Wahl, sondern die Mehrheit der Stimmen der Wahlmänner der einzelnen Staaten. Außerdem hat man bei jenem kosmetisch-äußerlichen Vergleich vergessen, daß Kennedy eine dünne, hohe Stimme hatte, während Nixon über einen sonoren Baß verfügte.
Im übrigen, Amerikaner wählen den Politiker, der ihre Interessen vertritt. Es ist kaum zu glauben, daß sie einen Politiker bloß wegen seiner blauen Augen, d.h. wegen seines vorteilhaften Aussehens, wählten.
Henry Kissinger gibt in seinen Memoiren 1968-1972 (1979, 674f.) einen handfesten politischen Grund für die Wahlniederlage Nixons an:
„Während des Präsidentschaftswahlkampfs von 1960 hatte die Kuba-Frage in der Fernsehdebatte mit Kennedy eine wichtige Rolle gespielt. Wenige Tage vor der Debatte vom 21. Oktober 1960 hatte sich Kennedy für eine Intervention mit amerikanischen Streitkräften auf Kuba ausgesprochen, mit dem Ziel, Castro zu; stürzen. … Nixon, der über die Vorbereitungen für das später fehlgeschlagene Unternehmen in der Schweinebucht orientiert war, hatte gemeint, Kennedy widersprechen zu müssen. Ob er das, wie er später behauptet hat, tat, um die Geheimhaltung der Pläne nicht zu gefährden, oder ob er sich gegenüber dem ‚unerfahrenen‘ Kennedy als reifer Staatsmann präsentieren wollte – er mußte später einsehen, daß seine patriotische Zurückhaltung wesentlich zu seiner Niederlage beigetragen hatte. In seinen Memoiren schreibt Nixon recht verbittert: ‚In jener Debatte erweckte Kennedy den Eindruck – vor 60 Millionen Zuschauern -, daß er Castro und dem Kommunismus gegenüber härter war als ich.‘ Das sollte sich nicht wiederholen.“
An anderer Stelle schreibt Kissinger ergänzend über Nixon: „Er war überzeugt, der Verlust der Wahlen 1960 sei in erster Linie auf zwei außenpolitische Ereignisse zurückzuführen gewesen: auf seine Zurückhaltung in bezug auf Kuba in seiner Debatte mit Kennedy und auf die Absage des von Eisenhower geplanten Gipfeltreffens in Moskau durch Chruschtschow.“ (l.c. 1228) Wie man weiß, hat Nixon dann 1972 die Wahl mit 61 Prozent der Wählerstimmen gewonnen. Es gibt wenige Präsidenten der Vereinigten Staaten, die ein höheres Wahlergebnis erzielt haben, und Nixon hatte es mit außenpolitischen Erfolgen errungen.
Das Problem, wie sich denn bei einem derart knappen Wahlausgang die Gründe für Sieg oder Niederlage feststellen lassen, besteht natürlich auch bei den Erklärungen Nixons und Kissingers. Doch können sie ihr Urteil mit sachlichen Argumenten ihrer politischen Erfahrung plausibel begründen. Es sind Profis der Politik, die nicht mit der Dummheit, sondern mit der Intelligenz der Wähler rechnen.
Was unsere Breiten angeht, so hat Helmut Kohl, neben Adenauer der erfolgreichste deutsche Bundeskanzler, praktisch alle seine Wahlen gegen die Mehrheit der Meinungsmacher des Fernsehens gewonnen, übrigens auch gegen die tonangebenden Magazine und Wochenblätter, deren Redakteure, mit der prominenten Ausnahme von Rudolf Augstein, nicht mal die Wiedervereinigung wünschten. Heute, während der Vorherrschaft des Internets, haben diese Blätter, auch durch eigenes Versagen, kaum noch einen öffentlichen Einfluß.
Doch scheint es einmal der Fall gewesen zu sein, wo das Fernsehen bei einer Wahl den Ausschlag gab, 1981 in Frankreich: "Die Präsidentschaftswahl von 1981, so spottete man in der politischen Kulisse, habe Giscard d'Estaing schon deshalb verlieren müssen, weil sich die Franzosen eine Fortsetzung seiner fast täglichen, hoheitsvollen Auftritte in der 'Glotzkiste', in den étranges lucarnes (den seltsamen Glotzen), während einer zusätzlichen Amtszeit von sieben Jahren nicht zumuten wollten." (P. Scholl-Latour, Leben mit Frankreich 1991, 102). — Damit wird auch die Beobachtung bestätigt, daß das Fernsehen ein entlarvendes Medium ist, das die Stars, die es hervorbringt, auch wieder verschleißt (cf. Lesen um zu leben, S.190).
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Übrigens ist Scholl-Latour das vollkommene Gegenbeispiel zu Willemsen. Auch seine Bücher beruhen auf TV-Sendungen. Sie sind aber außerordentlich informativ, seine Sachkenntnis ist umfassend, sein Urteil wohl begründet. Seine Buchreportagen ergänzen und vertiefen die Fernsehreportagen aufs beste. Freilich ist er politischer Reporter mit gründlicher historischer Bildung, kein Klatschkolumnist und Prominentenbefrager.
Der einzige Artikel in Willemsens Buch, dem man noch ein gewisses Interesse entgegenbringen kann, ist die Reportage über ein Treffen mit John le Carré. Hier ist von der kurzeitigen Geheimdienstarbeit des Autors und seinen Agentenromanen die Rede, wenn auch wiederum nur knapp und oberflächlich. Bei diesem Beitrag fällt auf, daß le Carré es nicht unterlassen kann, zweimal Bosheiten über Graham Greene zu äußern — seinen beneideten Gegenpart, dem er literarisch nun mal nicht das Wasser reichen kann.
Le Carré hat keinen einzigen Roman geschrieben, den man auf eine Stufe mit Greenes meisterhaften Agentenromanen Der stille Amerikaner und Der menschliche Faktor stellen könnte (cf. Die Grenzen des Menschlichen, S.152ff.). Greene hat übrigens eine der subtilsten Erzählmethoden des Romans angewandt, was man bei le Carré gewiß vergeblich suchen wird. Verräterisch ist aber, daß er selbst bei der kleinsten Gelegenheit sein Minderwertigkeitsgefühl nicht verbergen kann. Er zeigt damit eine Schwäche, die unserem Vorurteil, daß die Engländer kühle und beherrschte Gemüter seien, keineswegs entspricht. Dies ist denn auch das einzige Kapitel des Buches, wo die menschelnde Perspektive des Autors sich als nützlich erweist.
Schließlich, allzu kurz, fast nichtssagend ist das Interview mit dem russischen Kosmonauten ausgefallen, der wegen politischer Turbulenzen in Moskau die Erde bis zu seiner Entkräftung, Monate länger umkreisen mußte, als geplant.
Der Rest ist nicht der Rede wert und meine Enttäuschung über einen hochgerühmten, durchs Fernsehen bekanntgewordenen, heute wieder fast vergessenen Publizisten ist groß, wenn auch nicht unerwartet. Nach diesem konfusen Buch kann man beim besten Willen nicht annehmen, daß Willemsen ein Kopf gewesen sei, der wußte, was er wollte. Er unterschied sich darin wohl nicht von dem Publikum, dem er seinen Erfolg verdankte.