Ich spreche hier von seinen philosophischen und theologischen Schriften, nicht von seinen geistlichen Texten, die für jedermann bestimmt sind, wie etwa die Schrift Von der Not und dem Segen des Gebetes. Aber selbst in den Schriften, die sich an das große Publikum wenden wie der hunderttausendfach verbreitete Strukturwandel der Kirche (1972, 72), dessen Programm unverändert aktuell geblieben ist, finden sich Formulierungen, die man nur recht versteht, wenn man seine originelle Theologie kennt. Hier spricht er von dem „erlösenden Geheimnis des menschlichen Daseins, das wir ‚Gott‘ nennen“. Es ist ein Standardausdruck, den man aber nur begreift, wenn man den Sinn und die Pointe von Rahners Theorie der transzendentalen Erkenntnis erfaßt hat, wie sie etwa in seinem Hauptwerk Grundkurs des Glaubens (1976) entfaltet ist.
Auch in seinen Bekenntnissen. Rückblick auf 80 Jahre (1984, 46f.), den Erinnerungsprotokollen, die Georg Sporschill aufgezeichnet hat, Notizen zwangloser Gespräche über Rahners Leben, seine geistige Entwicklung, seine Stellung zur Kirche, seine Mitarbeit beim Konzil, stößt man auf hochabstrakte Passagen in seinem spezifischen Denkstil und seiner besonderen Begrifflichkeit, Sätzen wie die folgenden: „Wieweit, abstrakt gesagt, kategoriale Wirklichkeiten in das letzte, transzendentale Verhältnis eines Menschen zu Gott eintreten oder wieweit sie das in einer Individualgeschichte tun, ist eine offene Frage. Jeder wirkliche Christ wird ein indiskutables, absolutes Verhältnis zu Jesus Christus haben, obwohl es nicht identisch ist mit dem Verhältnis zum absoluten Gott, wo ich eine transzendentale Absolutheit meines Verhältnisses habe.“ Was mit dieser Aussage aber gemeint ist, wird man nur verstehen, wenn man Hörer des Wortes oder den Grundkurs gelesen hat. Ich werde das Zitat am Schluß dieses Artikels in eine verständliche Sprache übersetzen (cf. Christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.203).
Hörer des Wortes ist eines der schwierigsten philosophischen Bücher, die ich kenne. Es setzt voraus, daß man mit der transzendentalen Fragestellung im Sinne Kants ebenso vertraut ist wie mit der Existenzphilosophie Heideggers, der es um das unverfälschte Seinsverständnis des Menschen geht. Außerdem wird die Erkenntnistheorie des Thomas von Aquin vorausgesetzt. Im Kontext dieser Theorien entfaltet Rahner seine eigenen Gedanken. Die alles entscheidende Ausgangsfrage seines Denkens lautet: Welche geistigen Voraussetzungen des Menschen müssen gegeben sein, wenn der Mensch fähig sein soll, eine möglicherweise ergehende Offenbarung im christlichen Sinne zu verstehen?
Man sieht, daß Rahner eine theologische Frage des Christentums aufnimmt, darauf aber eine rein philosophische Antwort gibt, d.h. seine Antwort enthält nur Argumente der natürlichen Vernunft, sie enthält keine Glaubensaussagen. Mit diesem Verfahren ist die Methode und das Wesen einer christlichen Philosophie beschrieben, wie Rahner sie versteht (Christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.28).
Rahners Antwort umfaßt drei thematische Komplexe: eine besondere Erkenntnistheorie, ein spezifisches Seinsverständnis und eine Geschichtstheorie, die sowohl die objektive Ereignisgeschichte betrifft wie die geschichtliche Anlage des menschlichen Geistes. Am Ende langwieriger, außerordentlich verwickelter Überlegungen steht die für Rahner wesentliche Einsicht: Der Mensch bezieht sich in seinem Erkennen und Handeln immer in einem unumgänglichen Vorgriff auf das Sein im allgemeinen, implizit letztlich auf Gott. Das ist gemeint, wenn er von transzendentaler Erfahrung spricht.
Das ist die ursprüngliche Einsicht Rahners, der innerste Kern seines philosophischen und theologischen Denkens, der ideelle Grundstock, auf dem seine ganze weitere Theologie beruht. Er betrachtet die transzendentale Erfahrung als eine Art Gottesbeweis, und wenn er im Grundkurs eine transzendentale Christologie beschreibt, so entwickelt er diese originelle, ihm eigene Theologie, die in Lob und Tadel mit seinem Namen verbunden ist, auf dem Fundament der Philosophie der hier angedeuteten transzendentalen Erfahrung (Christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.119ff.).
Ich habe die Struktur dieser Erfahrung im einzelnen so genau wie nur möglich nachgezeichnet; vor allem aber habe ich nachgewiesen, daß man Rahners transzendentalen Erkenntnisbegriff mit den Ausdrücken der sprachanalytischen Philosophie überzeugend reformulieren kann. Ich halte also den Kern seines Denkens durchaus für rational begründet. Wenn man will, kann man in diesem Nachweis das wichtigste philosophische Ergebnis meiner Arbeit sehen (Christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.48ff. u. 197f.). Freilich ist die genaue Begriffsbestimmung der christlichen Philosophie, die in der Arbeit vorgenommen und vorgeführt wird, nicht weniger wichtig.
Der angedeutete Umstand, daß das menschliche Erkennen und Handeln sich implizit und unthematisch auf Gott bezieht, ohne daß der Erkennende und Handelnde von dieser Beziehung explizit weiß, ist übrigens ein plausibler Grund, warum Rahner hier von dem Geheimnis des menschlichen Daseins sprechen kann. Selbstverständlich ist damit der Bedeutungsgehalt von "Geheimnis" nicht erschöpft.
Der Grundkurs des Glaubens sollte nach dem Untertitel eine Einführung in den Begriff des Christentums sein. Was Rahner hier jedoch in neun Kapiteln über die Verschränkung von Philosophie und Theologie, über die Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes, über die transzendentale und biblische Christologie, die christliche Kirche ausführt, ist alles andere als ein Einleitungskurs für Anfänger. Rahner hat dies selbst gesehen und bedauert. Er meinte, das Buch müsse „übersetzt und „popularisiert“ werden (zit. Vorgrimler, Karl Rahner verstehen 2002, 159).
Eine derartige, allgemein verständliche Übersetzung des Grundkurses gibt es bis heute nicht. Soviel aber kann man sagen, daß man die theologischen Ausführungen des Grundkurses nur angemessen versteht, wenn man den philosophischen Gedankengang von Hörer des Wortes kennt. Rahners Theologie beruht auf einem philosophischen Fundament, er ist einer der wenigen zeitgenössischen Theologen, deren Lehre man rational diskutieren kann.
Dem entspricht die primäre oder grundsätzliche Intention des Grundkurses. Rahner will darin nachweisen, daß es mit der intellektuellen Redlichkeit eines Menschen von heute zu vereinbaren ist, im christlichen Sinne zu glauben. Dieser Nachweis aber kann nur deshalb gelingen, weil er rein philosophisch durchgeführt wird; andernfalls würde der Glaube vorausgesetzt, was eine petitio principii wäre. Mit dem Nachweis beantwortet Rahner die entscheidende Anfrage, die man an das Christentum stellen kann.
Schließlich, wie angekündigt, die kryptische Passage aus den Bekenntnissen (1984, 46f.), die ich eingangs zitiert habe, auf gut deutsch. Rahner behauptet, daß man ein „indiskutables, absolutes Verhältnis zur Kirche“ haben, aber dennoch in manchem von ihr tief enttäuscht sein könne. Dem folgen als Erklärung jene esoterischen Sätze: „Wieweit, abstrakt gesagt, kategoriale Wirklichkeiten in das letzte, transzendentale Verhältnis eines Menschen zu Gott eintreten oder wieweit sie das in einer Individualgeschichte tun, ist eine offene Frage. Jeder wirkliche Christ wird ein indiskutables, absolutes Verhältnis zu Jesus Christus haben, obwohl es nicht identisch ist mit dem Verhältnis zum absoluten Gott, wo ich eine transzendentale Absolutheit meines Verhältnisses habe.“
Aus dem Kontext ergibt sich, daß mit den „kategorialen Wirklichkeiten“ die „fehlerhafte Wirklichkeit“ der geschichtlich vorfindlichen Kirche gemeint ist. Ein Christ kann von diesen Fehlern tief enttäuscht sein. Sie erschüttern aber nicht sein Verhältnis zur Kirche, weil er glaubt, daß sie eine von Christus gegründete Institution ist, und er ein absolutes, unbedingtes Verhältnis zu Christus hat. Die Beziehung des Menschen zu Christus ist verschieden von seiner Beziehung zu Gott. Man kann aber fragen, ob sich die Erfahrung jener fehlerhaften Wirklichkeit auf das transzendentale Verhältnis des Menschen zu Gott auswirkt. Mit dieser Beziehung ist gemeint, daß der Mensch sich in der Transzendenz des Erkennens und Handelns auf das Sein überhaupt, letztlich auf Gott bezieht. Mit der „transzendentalen Absolutheit“ des Verhältnisses ist gemeint, daß der Mensch sich in jenem Vorgriff auf das absolute Sein bezieht. Das soll wohl auch heißen, daß dieser Beziehung des Menschen jedes andere Erleben unterzuordnen sei, vorausgesetzt, daß der Mensch ein gläubiger Christ ist. (Christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.203)