Josef Quack

Wider die Verächter der klassischen Bildung





Familien, wenn ihnen ein Kind geboren ist
Wünschen es sich intelligent.
Ich, der ich durch Intelligenz
Mein ganzes Leben ruiniert habe,
Kann nur hoffen, mein Sohn
Möge sich erweisen als
Unwissend und denkfaul.
Dann wird er ein ruhiges Leben haben
Als Minister im Kabinett.

B. Brecht

Bei den Verächtern der humanistischen Bildung muß man leider in erster Linie die Schulpolitiker nennen. Sie wollten vielfach das traditionelle Gymnasium durch die Gesamtschule ersetzen, was zu einer spürbaren Niveausenkung der Ausbildung geführt hat. Außerdem wurde mit der Oberstufenreform und der Möglichkeit, bestimmte Fächer abwählen zu können, die Qualität des Gymnasiums erheblich vermindert – darüber mehr bei Dietrich Schwanitz, Bildung (München 2002, 27ff.), (cf. J.Q., Rezension).

Diese Ausbildungsschwäche hat dann aber zu der kuriosen Tendenz geführt, daß ehrgeizige Eltern es als eine Frage des Prestiges ansehen, daß ihre Söhne und Töchter Latein lernen, und die Eltern, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder auf Privatschulen.

Zweitens haben die Kultusminister die vermurkste Rechtschreibe-Reform gebilligt und durchgeführt, die in vielen Wörtern deren griechische Herkunft nicht mehr anzeigt: Wörter mit „ph“ wie Geographie, Mikrophon, Photograph können nun mit „f“ geschrieben werden: Geografie, Mikrofon, Fotograf. Telefon darf nicht mehr mit „ph“ geschrieben werden. Das heißt, die eingedeutschte Schreibweise unterdrückt die Information, daß das Wort aus dem Griechischen stammt.

Noch ärger war es in der DDR um die klassische Bildung in den Schulen bestellt. Im Tagebuch von Victor Klemperer kann man nachlesen, wie der Lateinunterricht in den Schulen immer mehr zurückgedrängt wurde. Zuletzt gab es an wenigen Schulen nur einen Lateinunterricht in zwei Klassen, an wenigen Spezialschulen einen vierjährigen Unterricht als Vorbereitung für das Studium der Philologie oder der Altertumswissenschaft.

Die Schulfunktionäre des Regimes ließen sich offensichtlich nicht dadurch beeindrucken, daß die von ihnen hofierten Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der, ein begabter Sprachenkenner, Latein und Griechisch gut verstand, und Bert Brecht, der Latein lesen konnte, humanistisch gebildet waren. Und merkwürdigerweise gab es ihnen auch nicht zu denken, daß Karl Marx über eine hervorragende klassische Bildung verfügte.

Sie betrachteten den Menschen als Arbeitstier, das in der Schule nur das lernen sollte, was für seine Arbeit nützlich und direkt zu verwerten war. Daß es auch ein Wissen gibt, das nicht unmittelbar praktisch ist, sondern der geistigen Horizonterweiterung und Orientierung dient, war ihnen völlig fremd. Die kommunistische Ideologie, das Monopol in Weltanschauung besitzend, behauptete, alle geistigen Bedürfnisse restlos befriedigen zu können. Die Partei beanspruchte eine pseudoreligiöse Autorität als die „letzte Instanz unseres Gewissens“, wie Klemperer kritisch zitiert (23. 10. 1957).

Ein Linguist sagt zu ihm: "Wenn Latein gestrichen wird, sind wir gänzlich enteuropäisiert" (22. 5. 1953). In der Tat zielte die Kulturpolitik Ostberlins darauf ab, sich von den beiden tragenden Überlieferungen Europas zu lösen: dem Christentum und dem römisch-griechischen Erbe. Der erste Punkt wurde mit der Entchristlichung Ostdeutschlands fast völlig erreicht, und der zweite Punkt wurde bis zu einem gewissen Grad erreicht, insofern hier ein Ausgleich zwischen Ost und West stattgefunden hat.

Die östliche Schulpolitik spiegelte den ideologischen Konflikt zwischen Ost und West während des Kalten Krieges wieder. Der strikten Westpolitik der Bundesrepublik entsprach die Berufung auf den Geist und das Bildunsgut des Abendlandes, wie man damals für Europa gerne sagte. In diesem Kontext war die östliche Abkehr von den Idealen der humanistischen Bildung nicht zuletzt auch ein Votum gegen den Westen.

Von Marx aber ist ein Zitat berühmt geworden, in dem er am Ende des Kapitals die Ergebnisse des Buches, die das Wesen des Kapitalismus ausmachen, großartig zusammenfaßt. Er vergleicht in diesem Zitat von Vergil die Entstehung des Kapitalismus mit der Entstehung des römischen Reiches: „Tantae molis erat, die ‚ewigen Naturgesetze‘ der kapitalistischen Produktionsweise zu entbinden, den Scheidungsprozeß zwischen Arbeitern und Arbeitsbedingungen zu vollziehen, auf dem einen Pol die gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmitteln in Kapital zu verwandeln, auf dem Gegenpol die Volksmasse in Lohnarbeiter, in freie ‚arbeitende Arme‘, dies Kunstprodukt der modernen Geschichte.“ (Das Kapital. Berlin 1972, 787f., MEW 23).

Der lateinische Satz lautet vollständig: „Tántae mólis erát Románam cóndere géntem“ (Solcher Mühe bedurfte es, das römische Geschlecht zu begründen). Der Vers ist ein Hexameter, jeweils eine lange, betonte Silbe und zwei kurze Silben (— - -). Er stammt aus Vergils Aeneis, Buch 1, Vers 33. Übrigens zitiert Marx Homer und Platon in griechischer Sprache und selbstverständlich auch in griechischer Schrift. Dagegen ist es heute Unsitte, griechische Wörter in lateinischer Schrift wiederzugeben, als lernte nicht jeder Oberschüler mit den Winkelfunktionen die griechischen Buchstaben kennen und als enthielte nicht jedes Rechtschreibe-Buch das griechische Alphabet.

Schwanitz muß man loben, daß er es als einzelner Autor gewagt hat, zusammenzustellen, was ein Mensch wissen sollte, wenn er gebildet sein möchte. Man muß aber gegen sein Bildungs-Kompendium zwei Einwände machen: Als Geisteswissenschaftler hat er das naturwissenschaftliche und technische Wissen fast ganz vernachlässigt und als Anglist hat er den Schwerpunkt seines Bandes nicht auf die klassische humanistische Bildung gelegt, sondern auf die neuzeitliche, hauptsächlich englische Literatur. Nicht Homer, sondern Shakespeare ist für ihn das Maß aller literarischen Dinge.

So kommt in dieser Geschichte der europäischen Kultur der größte Dichter Roms, Publius Vergilius Maro (70-19 v. Chr.), nicht als reale Person, Zeitgenosse des Horaz und Freund des Augustus vor, sondern nur als dichterische Figur in der Göttlichen Komödie Dantes (Schwanitz, l.c. 277). Die Aeneis, das Epos über die mythische Vorgeschichte der Gründung Roms, vorzustellen und zu besprechen, kommt Schwanitz dagegen nicht in den Sinn. Daß aber Dante in seinem Epos von allen Gestalten der Antike ausgerechnet Vergil zum Führer seiner Reise durch die Hölle und das Fegefeuer ausgewählt hat, zeigt, wie hoch man Vergil im Mittelalter geachtet hat. Diese Wertschätzung hält bis in die Neuzeit in England, Italien und Frankreich an.

Bei uns ist schließlich das Buch Vergil, Vater des Abendlandes (1931) des christlichen Philosophen Theodor Haecker berühmt geworden. Darin erklärt Haecker am Beispiel der Werke Vergils, der Bucolica, Hirtengedichte, der Georgica, Gedichte vom Landbau, und der Aeneis, was man unter klassischer Dichtung zu verstehen hat. Das „unerbittliche Gesetz der klassischen Kunst“ besteht darin, „mit den gewöhnlichsten Wörtern den ungewöhnlichsten Vers zu erschaffen, von unrein gebrauchten Wörtern her zur gloria des reinen Wortes zu steigen (wie analog nur aus dem vagen sensus communis, und nicht aus dem Raffinement die strenge philosophia perennis wird)“ (Vergil, Vater des Abendlandes. Frankfurt 1958, 71).

Denselben Grundsatz der literarischen Sprachverwendung findet man dann noch bei Schopenhauer, der dekretiert: "Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge" (Über Schriftstellerei und Stil § 283). Mit der Philosophia perennis, der immerwährenden Philosophie, ist konkret die auf Aristoteles und Thomas von Aquin beruhende Lehre gemeint.

An dieser Stelle muß unbedingt darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich hinter der klassischen Sprachnorm und der stilistischen Maxime Schopenhauers eines der größten Probleme der Sprachphilosophie verbirgt. Es ist eine der faszinierendsten Fragen der Philosophie überhaupt, die überdies den Vorteil hat, einfach und für jedermann verständlich zu sein. Es geht um die Frage: Wie kann man mit bekannten Wörtern, Sprachzeichen, etwas Neues sagen? Oder in Wittgensteins Formulierung: "Ein Satz muß mit alten Ausdrücken einen neuen Sinn mitteilen".

Mit diesem Problem haben sich Wilhelm von Humboldt, Frege, Wittgenstein und Chomsky mit leidenschaftlicher Akribie beschäftigt (W. Künne, Die philosophische Logik Gottlob Freges. Frankfurt 2010, 591f.). Sie haben verschiedene Lösungen vorgeschlagen, die ich hier natürlich nicht diskutieren kann. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß der literarische Begriff des Klassischen einige prinzipielle philosophische Fragen aufwirft oder impliziert, die man in einer Theorie der Bildung zu beachten hätte.

Haecker bespricht dann einige Leitsätze der Werke Vergils, um auf dieser Grundlage die Geisteshaltung des antiken Humanismus zu umschreiben. Diese Leitsätze beziehen sich auf die zentralen Lebenskreise des Menschen und artikulieren deren Sinn und Probleme. „Omnia vincit Amor: et nos cedamus Amori“ (Alles besieget die Liebe; wir auch weichen der Liebe), lautet die erste Sentenz, die den Sinn des antiken Eros wiedergibt.

Der zweite Grundsatz heißt: „Vincit omnia labor improbus“ (Alles besiegt die Arbeit, die hart und mühselig ist). Hier betont Haecker dreierlei: daß diese Auffassung nicht von Händlern oder Seefahrern stammen kann, sondern nur von einem landbebauenden Volk, von dessen Arbeit sich der Begriff der Kultur herleitet; daß die Verherrlichung der Arbeit, als wäre sie ein Wert an sich, eine moderne Vorstellung ist; in einem weiteren Aufsatz zum Thema entwickelt Haecker dann den Begriff der Maschine, die nicht eine Art höherentwickeltes Handwerkszeug ist, sondern zur Kategorie des Autommaten gehört.

Der dritte Satz behandelt das gewaltige Thema der politischen Herrschaft, die Idee des Imperiums, die für zweitausend Jahre die europäische Politik bestimmte: „Paupere terra missus in imperium magnum“ (von armer Erde weg zu gewaltiger Herrschaft berufen) (l.c. 107). Diese Schrift enthält so etwas wie eine Skizze der Ideale der antiken Kultur, die Grundgedanken der klassischen Bildung, ein Artikel, den man bei Schwanitz vergebens sucht.

Als Arabeske sei hier eingefügt, daß die feinste, sozusagen authentischste erotische Geschichte sich meines Wissens nicht in den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht findet, auch nicht in freizügigen modernen Romanen, sondern in der antiken Literatur.

Schwanitz behauptet, „große Literatur [sei] kein öder Bildungsstoff, sondern eine Form der Magie, bei der man an Erfahrungen teilnehmen und sie zugleich beobachten kann“ (l.c. 7). Zugleich aber wirft er der Germanistik vor, „magische Praktiken“ zu verwenden (l.c. 35). Er faßt den Bildungsvorgang als irrationales Phänomen auf – was ja nicht gerade erhellend ist.

Soviel ich weiß, gibt es keine ausgearbeitete Theorie der Bildung. So kann ich nur auf die wichtigen Ansätze bei Hans-Georg Gadamer in seiner hermeneutischen Philosophie verweisen. Im ersten Kapitel betont er die „Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften“. Er erklärt, daß es diesen Wissenschaften nicht auf die Entdeckung und Beschreibung von Gesetzmäßigkeiten ankomme wie in den Naturwissenschaften, sondern darum, wie man singuläre historische Gebilde verstehen kann. Zu diesem Zweck aber ist geistige oder kulturelle Bildung erfordert, deren Begriffsgeschichte er im einzelnen diskutiert (Wahrheit und Methode 1965, 7ff.).

Dabei ist für Gadamers Philosophie bezeichnend, daß er die ästhetische Bildung als eine verengte subjektivistische Einstellung, als eine Form der Abstraktion ansieht, die die Frage nach der Wahrheit der Kunst ausklammert (l.c. 84). Nicht zuletzt erläutert er am „Beispiel des Klassischen“, daß zu den „Bedingungen des Verstehens“ ein Vorverständnis gehöre, das er freilich recht mißverständlich Vorurteil nennt (l.c. 269).

Diesem Plädoyer für die klassische Bildung will ich gleich die Einwände hinzufügen, die Nietzsche gegen ein falsches Bildungsideal vorgebracht hat, obwohl sich die kulturelle Szene heute radikal geändert hat und seine Einwände in mancher Hinsicht historisch geworden sind.

Er spricht zu einer Zeit, die an „Übersättigung“ von Historie leidet, d.h. mit historischem Wissensstoff überhäuft ist, und kritisiert ein rein enzyklopädisches Wissen, ein rein lexikalisches Wissen, das von dem Rezipienten nicht wirklich angeeignet wurde. Dies führt zu einer chaotischen, ungeordneten Innenwelt, Innerlichkeit genannt, der keine Form und Konvention der äußeren Lebensweise entspricht: „Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, weil es ohne jenen Gegensatz sich gar nicht begreifen läßt, das heißt: sie ist gar keine wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein Bildungs-Entschluß daraus.“ Er verspottet die moderne Bildung, sie sei eine innerliche Bildung für „äußerliche Barbaren“, weil sie keine Formkraft und keinen Formsinn enthalte, und stellt die „moderne Gebildetheit“ gegen die wahre Bildung. (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kap. 4).

Dazu muß man sagen, daß Nietzsche eine Zeit im Auge hat, in der der historische Sinn allgemein entwickelt und weit verbreitet war und die Humaniora unangefochten gelehrt und gepflegt wurden. Es war die Zeit des gesellschaftlich hoch geachteten Bildungsbürgers. Diese Epoche ist längst vorbei, die humanistischen Studien sind zu Randfächern in Schule und Hochschule geworden. Von Nietzsches Kritik bleibt aber selbst auf der heutigen Schwundstufe der klassischen Bildung ein Punkt in Geltung, der Hinweis auf die Gefahr, daß es dabei nur um die Aneignung lexikalischen Wissens geht und die Aneignung des humanistischen Geistes, die Lehre seines idealen Menschenbildes, vernachlässigt oder ganz ignoriert wird.

An dieser Stelle kann ein Gedanke Tugendhats weiterführen, nämlich der Gesichtspunkt der Relevanz. Die Geisteswissenschaften sollen nicht in antiquarischer Gesinnung alles, was wahr ist, erforschen, sondern hauptsächlich das, was für uns wichtig ist und letztlich unserer Selbstverständigung dient, d.h. der Selbstaufklärung und Selbstkritik.

So ist etwa das Studium fremder Kulturen notwendig, weil wir in dieser Auseinandersetzung unsere eigene Kultur recht eigentlich kennen lernen, und die historische Forschung ist wichtig, um herauszufinden, wie bestimmte politisch-gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder verhängnisvolle Ideologien entstanden sind. Kurzum: "Was für die kritische Klärung unseres Selbstverstländnisses die größte Relevanz hat, müßte, wenn die Geisteswissenschaften als Aufklärungswissenschaften verstanden werden, an erster Stelle stehen." (E.Tugendhat, Philosophische Aufsätze. Frankfurt 1992, 462) Aus diesem Programm folgt meines Erachtens, daß wir fremde Kulturen nicht im Sinne des Multikulturalismus naiv bejahen, sondern genau so kritisch beurteilen sollten wie unsere eigene Kultur.

Eine zweite Kritik, die aber durchaus aktuell geblieben ist, richtet sich speziell gegen das Studium der griechischen Sprache. Sie stammt von Bertrand Russell, der in seinem philosophiehistorischen Kapitel über Platon schreibt: „Bemerkenswert ist, daß moderne Platoniker mit wenigen Ausnahmen keine Ahnung von Mathematik haben, trotz der ungeheuren Bedeutung, die Platon der Arithmetik und Geometrie beimaß und trotz des gewaltigen Einflusses, den sie auf die Philosophie gehabt haben. Ein Beispiel für die Nachteile der Spezialisierung: es darf einer nur über Plato schreiben, wenn er sich in seiner Jugend so viel mit Griechisch beschäftigt hat, daß ihm keine Zeit für die Dinge blieb, die Plato für wichtig hielt.“ (Philosophie des Abendlandes. Köln 1999, 152f.)

Zu den Ausnahmen der Platonkenner, die zugleich auch etwas von Mathematik verstanden, zählt natürlich Alfred Whitehead, der zusammen mit Russell die Principia Mathematica verfaßt und den bekannten Satz geprägt hat: „Die ganze abendländische Philosophie besteht nur aus Fußnoten zu Platon.“ Man müßte hier aber auch Karl Popper nennen, der selbst Platon übersetzt und, mathematisch gebildet, den Stellenwert der Geometrie in dessen System betont hat.

Jedoch muß man zu Russells Monitum sagen, daß die Kenntnis des Griechischen nun einmal notwendig ist, um Platon wirklich verstehen zu können, wenngleich es ideal wäre, man man auch zumindest mathematische Grundkenntnisse hätte. Wie dem auch sei, man kann feststellen, daß einige der bedeutendsten Philosophen unserer Zeit es gewiß auch deshalb sind, weil sie sich durch die Kenntnis dieser klassischen Sprache auszeichnen: Heidegger, Gadamer, Tugendhat. Mit einem gewissen Erstaunen liest man auch, daß Hannah Arendt, durch ihre philosophisch fundierten Schriften der politischen Theorie bekannt geworden, in New York regelmäßig eine „Graeca“ besuchte, einen Club, in dem man Griechisch übte und pflegte. Zu nennen wäre auch Wittgenstein, der nach der Beobachtung Wolfang Künnes gelegentlich bestimmte Platon-Texte als "Folie" heranzieht, um Probleme des Begriffs zu analysieren; freilich bleibt offen, ob er sich auf das Original oder die Übersetzung bezieht (W. Künne, Abstrakte Gegenstände. Frankfurt 2007, 94).

Was aber das Lateinische angeht, so haben wir dafür nun als Einführung und Plädoyer das kurzweilige, informative und geistreiche Werk von Wilfried Stroh: Latein ist tot, es lebe Latein! Kleine Geschichte einer großen Sprache. Berlin 2007. (cf. J.Q., Rezension). Als Liebhaber und Enthusiast seines Fachs spricht er sich schließlich dafür aus, Latein auch als Umgangssprache und in der alltäglichen Konversation zu verwenden. Mir scheint, daß er in diesem Punkt etwas zu weit geht. Denn man lernt eine so alte Sprache ja nicht, um ein Bier auf Latein bestellen zu können, sondern um große Dichtung, überragende Geschichtswerke und philosophische Klassiker lesen zu können: Vergil, Tacitus und Cicero. Auch lernt man Latein, um die wissenschaftlichen Namen der Tiere und Pflanzen verstehen zu können und die älteren Begriffe der Medizin.

Der Lateinschüler liest oder las in unseren Breiten als erstes Werk gewöhnlich De bello gallico (Über den gallischen Krieg) von Julius Caesar, die Schrift eines großen Staatsmanns und Feldherrns über eine Epochenwende in der europäischen Geschichte, ein Werk in klassisch gewordenem, reinem, präzisem, straffem, ungekünsteltem Latein. Das Bildungserlebnis des jungen Schülers bestand darin, daß sein geistiger Horizont sprachlich und historisch in einer Weise erweitert wurde, wie es keine moderne Sprache hätte leisten können, die man tatsächlich meist lernt, um ein Bier bestellen zu können.

Dem Unkundigen des Lateins bleiben viele philosophische Hauptwerke unserer Kultur in ihrem innersten Sinn doch verschlossen: Augustinus, die Scholastiker, Descartes, Spinoza, Leibniz, selbst einige Frühschriften Kants und nicht zuletzt das philosophische Buch, das in unserem Kulturkreis am meisten gelesen wurde und am weitesten verbreitet war: die Consolatio philosophiae (Trost der Philosophie) des Boethius (480-524 n. Chr.), im Gefängnis vor seiner Hinrichtung geschrieben.

Was die kulturelle Höhe der klassischen Antike angeht, so scheint mir nichts signifikanter zu sein als die in der Geschichte des Westens einzigartige Tatsache, daß zwei römische Staatsführer oder Kaiser Schriften hinterlassen haben, die bis heute zum klassischen Bildungskanon gehören: Caesars Werke und die Wege zu sich selbst, übrigens auf griechisch geschrieben, von Kaiser Marc Aurel (121-180 n. Chr.). Aus neuerer Zeit könnte man zum Vergleich höchstens einige Schriften Churchills oder Bismarcks Gedanken und Erinnerungen nennen. Doch entsprechen weder diese Bücher der literarischen Bedeutung der römischen Werke noch diese Autoren dem politisch-historischen Rang jener Herrscher.

An diesen Beispielen ersieht man übrigens, daß die großen Werke der europäischen Antike immer auch eine politische Komponente, wenn nicht sogar meistens in der Hauptsache ein politisches Thema hatten, was übrigens Schwanitz, auf die Neuzeit fixiert, nicht gebührend beachtet hat.

So kann es nicht überraschen, daß auch das amüsanteste Plädoyer fürs Latein, das ich kenne, ein politisches Thema hat: „Regulus“, eine Schulgeschichte von Rudyard Kipling (Stalky & Co. Zürich 1988, 207-235).

J.Q. — 2. Dez. 2022

© J.Quack


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