Josef Quack

"Adventstimmung des Heidentums"
Das Rätsel Vergils





Ohne Übertreibung kann man feststellen, daß in der Dichtung Vergils eines der größten Rätsel der Kulturgeschichte enthalten ist. Im Jahre 40 v. Chr. erschienen die Bucolica Vergils, die Hirtengedichte. In der vierten Ekloge wird ein neues Zeitalter angekündigt, mit dem Auftreten einer Jungfrau und eines göttlichen Knaben. Die Ähnlichkeit dieser Vorhersage mit den Umständen und der historischen Bedeutung der Geburt Jesu ist so frappierend, daß man im Urchristentum und im Mittelalter die Verse Vergils ohne Vorbehalte auf die christliche Ära bezogen hat. Mit welchem Recht? Das ist die Frage, die es hier zu beantworten gilt.

Darüber gibt es bis heute eine umfangreiche Literatur mit verschiedenen Hypothesen. Ich will nur auf zwei Autoren hinweisen, die sich zuletzt mit diesem Problem beschäftigt haben: Wilfried Stroh in seiner Geschichte der lateinischen Sprache und Joseph Ratzinger in seiner Jesus-Monographie. Man wird aber nicht sagen können, daß sie es vollkommen oder zufriedenstellend gelöst hätten. Es kann dabei nicht überraschen, daß die Antwort von der Geschichtstheorie abhängt, die der Interpret seiner Deutung zugrundelegt. Eine profane Geschichtsauffassung wird eine andere Antwort nahelegen als eine christliche Geschichtsauffassung.

Die fraglichen Verse Vergils lauten:

Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;
magnus ab integro saeclorum nascitur ordo.
iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna,
– – –
Adgredere o magnos — aderit iam tempus — honores,
cara deum suboles, magnum Iovis incrementum.
aspice convexo nutantem pondere mundum,
terrasque tractusque maris caelumque profundum;
aspice, venturo laetantur ut omnia saeclo.
– – –
Incipe, parve puer, risu cognoscere matrem;

Es folgt die Versübersetzung Theodor Haeckers, die als solche natürlich nicht wortwörtlich sein kann; sie trifft aber den Sinn genauer als andere Übertragungen.

Nun ist gekommen die letzte Zeit nach dem Spruch der Sibylle;
Neu entspringt jetzt frischer Geschlechter erhabene Ordnung.
Schon kehrt wieder die Jungfrau; Saturn hat wieder die Herrschaft.
– – –
Tritt an (oh, es naht schon die Stunde!) die herrlichen Ehren,
Teuerer göttlicher Sprosse, des Zeus erhabener Same!
Siehe das Weltall erschauernd unter der lastenden Kuppel,
Siehe die Länder, die Flächen des Meeres, den Abgrund der Himmel –
Siehe, wie alles und alle sich freuen des kommenden Äons!
– – –
Fang an, kleiner Knabe, lächelnd erkenne die Mutter –

(Vergil, Hirtengedichte. Theodor Haecker, Vergil, Vater des Abendlandes. Frankfurt 1958, 23f.; cf. Th. Haecker, Essays. München 1958, 307)

Wilfried Stroh erklärt durchaus zu Recht, daß „der überragende Ruhm der Bucolica auf der vierten Ekloge beruhe, einem Lied auf den Konsul Pollio: „Es ist das bekannteste und bis zur Stunde umstrittenste Gedicht der lateinischen Literatur“. Er glaubt, sich auf den Text berufen zu können, wenn er schreibt, Vergil habe prophezeit, daß „noch im Jahre 40 v. Chr., im Konsulatsjahr seines Freunds Asinius Pollio, ein wunderbarer Knabe“ geboren werde. „Dieser Jupiterknabe werde der Menschheit Frieden bringen und ein goldenes Zeitalter wiederherstellen“ (Latein ist tot, es lebe Latein 2007, 68; cf. J.Q., Rezension). Freie Interpretation ist der Zusatz, daß der Knabe „eine Art Messias“ sei und es sich um ein „goldenes“ Zeitalter handle.

Wenn Stroh hier von einem Messias spricht, übernimmt er einen Begriff der frühchristlichen Interpretation, die er als „Fehlinterpretation“ ebenso verwirft wie Vergils Prophezeiung: „Vergil, der Dichterprophet, hatte auf jeden Fall geirrt. Ein Frieden bringender göttlicher Knabe mit dem Geburtsdatum 40 v. Chr. hat in diesen Jahrzehnten unseres Wissens keine Rolle gespielt.“ Er verwirft die Deutung, daß mit jenem Knaben Jesus gemeint sei, hauptsächlich mit dem Argument, daß er nicht im Jahre 40 v. Chr. geboren worden sei (l.c. 69).

Außerdem sind noch zwei Gedanken Strohs bemerkenswert. Er schreibt durchaus überzeugend, daß Vergil keinen bestimmten Knaben gemeint habe, um einem zeitgenössischen Staatsmann zu schmeicheln. Auch hält er es für möglich, daß Vergil den Propheten Jesaja gekannt haben könnte, und verweist auf dessen Weissagung: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären und seinen Namen ‚Immanuel‘ nennen“ (Is 7,14). Eben dieser Vers wird von Matthäus dann als Schriftbeweis für die Geburt Jesu angeführt (Mat 1,23).

Strohs Fazit lautet also, daß Vergil sich geirrt hat und der Ruhm der Bucolica auf einer „Fehlprognose“ des Dichters beruhe. Das heißt auch, daß der christliche Nachruhm Vergils sich von einer falschen Gedichtinterpretation herleite. So glaubt Stroh, das wirkungsstärkste Gedicht der römischen Antike streng philologisch entzaubert und radikal entmythologisiert zu haben.

Dagegen wäre zunächst zu sagen, daß das Gedicht, entgegen der Annahme des Altphilologen, keine eindeutige Aussage über den kommenden Äon des göttlichen Knaben macht. Es heißt: „Während du, o Pollio führest, beginnt dieses Äons Herrlichkeit“, und später im Hinblick auf den göttlichen Knaben, „es naht schon die Stunde“, wo „alle sich freuen des kommenden Äons“. Man wird diese Zeitangaben kaum so verstehen können, daß sie beide sich auf die Gegenwart des Jahres 40 v. Chr. beziehen, wie Stroh anzunehmen scheint, und gerade das zweite Zitat kann aber als Anhaltspunkt für die christliche Auslegung des Gedichts dienen. Man muß aber klar sagen, daß das christliche Verständnis eine selektive Auslegung des Textes ist, was freilich für die prophetische Textgattung nicht ungewöhnlich ist, die ja keine historische Prognose im geschichtswissenschaftlichen Sinne sein will.

Der Romanist Ernst Robert Curtius, ein gefeierter Vertreter der philologischen Zunft, stimmt dagegen der traditionellen Deutung der Ekloge im Prinzip zu: „Wir werden nie ergründen, was die vierte Ekloge für ihren Dichter besagte: sie hat das mystische Privileg der Unaussagbarkeit des Gehaltes … Und dennoch dürfen wir die mittelalterliche Legende in unserm Sinn bekräftigen; dürfen glauben, daß in der Synchronie der gottmenschlichen Offenbarung und des römischen Reichsdichters ein Mysterium Europas verborgen und wiederzufinden ist. Wir besitzen dafür die geheiligte Gewähr Dantes.“ (Kritische Essays zur europäischen Literatur 1963, 11f.) Er fügt dem hinzu, daß „orientalische Prophetien in die vierte Ekloge“ hineinreichten, ohne diesen Einfluß zu präzisieren (l.c. 22); er könnte damit auch biblische Weissagungen gemeint haben.

Die Frage ist, ob Curtius als säkularer Philologe argumentiert oder christliche, d.h. theologische Erklärungen übernimmt, wenn er von der Synchronie, der Gleichzeitigkeit, der christlichen Offenbarung und der Dichtung Vergils spricht und damit eine sachliche, thematische Beziehung zwischen der christlichen Verkündigung und jenem Gedicht annimmt. Nun, die Gleichzeitigkeit der beiden Ereignisse wird man wohl kaum bestreiten können, während man ihre sachliche Beziehung wohl nur annehmen kann, wenn man den christlichen Glauben voraussetzt.

Joseph Ratzinger, Benedikt XVI., bezieht in dieser Kontroverse eine vorsichtig zurückhaltende Stellung. Er diskutiert die Ekloge Vergils im Zusammenhang der Frage, ob die in der Bibel berichtete Jungfrauengeburt Mythos oder geschichtliche Wahrheit sei. Er prüft einige mythologische Sagen mit diesem Thema, um die entscheidende Differenz zu der biblischen Aussage hervorzuheben.

Das Thema Vergils von der bevorstehenden Zeitenwende deutet er innerhalb der antiken Vorstellung eines Kreislaufes der Äonen, und die Hoffnung auf eine Friedensordnung bezieht er auf jene Jahre des Bürgerkrieges. 42 v. Chr. waren in der Schlacht von Philippi die Mörder Cäsars besiegt worden. In diesen Erwartungshorizont ordnet er auch die Gestalt der Jungfrau ein „als ein Bild des Reinen, des Unversehrten“, als ein Symbol der Neuheit des Äons. Er resümiert, daß man vielleicht sagen könne, „daß die Gestalt der Jungfrau und des göttlichen Knaben irgendwie zu den Urbildern menschlicher Hoffnung gehören, die in Augenblicken der Krise und der Erwartung hervortreten, ohne daß konkrete Gestalten im Blick wären.“ (Jesus von Nazareth. Prolog. Die Kindheitsgeschichten. 2014, 62f.)

Er deutet die Jungfrau also als eine rhetorische Figur, als archetypische Vorstellung, die mit der realen Jungfrau der Bibel nur die schwache Konnotation gemeinsam hat, daß mit der literarischen Figur Vergils und mit Maria, der historischen Person der Bibel, die Vorstellung eines völligen Neuanfangs, einer Zäsur der Geschichte, verbunden ist. Mit dieser rhetorischen und zeitgeschichtlichen Erklärung des Gedichts schließt Ratzinger implizit aus, daß die Ekloge eine prophetisch intendierte Beziehung zur kommenden christlichen Zeitenwende habe.

Wie man sieht, legt der Theologe mit dieser Lesart eine rein profane, säkulare Deutung des Vergilischen Gedichts vor, die mit der christlichen Auffassung der Tradition kaum etwas zu tun hat. Freilich hat Ratzinger für seine Meinung durchaus ein theologisches Motiv: Er will nämlich die historische Einzigartigkeit der biblischen Darstellung der Jungfrauengeburt nachweisen und im einzelnen begründen, daß es dafür keine mythologische oder dichterische Parallelen gibt.

Schließlich sei noch die Auslegung Theodor Haeckers referiert. Wie die Vertreter der christlichen Tradition beurteilt er die Ekloge aus der Perspektive des christlichen Glaubens, lehnt aber die enge traditionelle Lesart ab, das Gedicht sei „eine wörtlich gemeinte Prohezeiung des Heilandes“ (Vergil, Vater des Vaterlandes 1958, 147). Seine Deutung des Gedichts ist eine Kombination von philologischen und geschichtstheologischen Aussagen und Argumenten. Im einzelnen behauptet er:

1. Die Ekloge ist kein „Schmeichelgedicht“, bezogen auf irgendeinen Sohn des Konsuls Pollio (Haecker, Essays 1958, 397).

2. „Was von dem kommenden Äon gesagt wird, geht weit über das Humane hinaus, weit auch über Augustus und sein Zeitalter“ (Vergil, Vater des Vaterlandes 1958, 147). Diese Interpretation widerspricht der politisch-historischen These Strohs.

3. Das christliche Altertum und das Mittelalter sah in der Ekloge eine „wörtlich gemeinte Prophezeiung des Heilandes“ – „das ist sie nun nicht“. In diesem Punkt stimmt Haecker wiederum mit Stroh überein.

4. Denn Vergil war „kein Prophet wie Isaias“.

5. Er hat vielmehr „einen mythischen Stoff gestaltet, der Beziehung zur ewigen Wahrheit“ hat; „es ist ein mythisches Ahnen göttlicher Heilsgeschichte“, ein Stoff, der wahrscheinlich aus dem Orient stammt. Damit ist offensichtlich die Aussage des Gedichts über den kommenden Äon des göttlichen Knaben gemeint.

6. Der Augenblick, in dem das Gedicht entstanden ist, wurde von der göttlichen Vorsehung bestimmt.

7. Die Vorsehung hat auch gerade Vergil „in der Adventsstimmung des Heidentums zu dieser Gestaltung bestimmt, weil er in eminentem Sinne vor Christus die anima naturaliter christiana war“ (die von Natur aus christliche Seele).

8. Vergil war „wie kein anderer des Heidentums, nicht Plato und Aristoteles, ein Auserwählter, zu Christus hin“, hauptsächlich deshalb, weil er entgegen der verbreiteten Auffassung der Antike nicht glaubte, daß das Fatum, das Schicksal, über den Göttern stehe. Er glaubte vielmehr: „Jupiter selber, der pater omnipotens, ist das Fatum.“ (l.c. 147). Pater omnipotens heißt allmächtiger Vater.

9. In dieser Interpretation wird vorausgesetzt, daß auch der Mythos wahre Gedanken enthalten kann; so sind viele „Fakta der Offenbarung“ in der Bibel in „mythischen Ausdrucksweisen“ verkündet worden (Essays S. 308). Derartige Formen sind bildliche, anschauliche Erzählungen, die als eine Art von Erklärung verstanden werden können.

10. Fazit: Haecker faßt die vierte Ekloge Vergils demnach als die Gestaltung der „Adventsstimmung des Heidentums“ auf, als der poetische Ausdruck eines "mythischen Ahnens göttlicher Heilsgeschichte“. Das von Curtius beschriebene, von Stroh aber völlig ignorierte Rätsel, daß eine Synchronie zwischen der Ankündigung des Gedichts und der Verkündung der christlichen Offenbarung bestehe, löst Haecker mit der Erklärung, daß er darin eine Fügung der Vorsehung erblickt. Das ist die entscheidende geschichtstheologische, auf christlichem Geist beruhende Voraussetzung seiner Interpretation. Eine auf den Glauben gestützte Aussage ist natürlich auch die Charakterisierung Vergils als eine von Natur aus christliche Seele.

Um auch das noch zu sagen: Das Verhältnis von profaner Geschichte und Heilsgeschichte, von historischer Forschung und Geschichtstheologie, ist ein dorniges Kapitel, das von den Theologen unserer Zeit eher am Rande behandelt wird. Es steht im Zentrum von Haeckers Denken und er hat ihm die erhellende Schrift gewidmet: Der Christ und die Geschichte (1935), erschienen in der dunkelsten, unchristlichsten Periode der deutschen Geschichte.

J.Q. — 19. Dez. 2022

© J. Quack


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