Im November 1946 erschien in den Frankfurter Heften die berühmteste, radikalste und wirksamste kirchenkritische Schrift der Nachkriegszeit: der „Brief über die Kirche“ von Ida Friederike Görres. Die Schriftstellerin hatte diesen Aufsatz nicht auf eigene Initiative hin geschrieben, sondern angeregt und gebeten von den Herausgebern der Zeitschrift, Walter Dirks und Eugen Kogon. Die Amtskirche reagierte auf die schonungslose Darstellung der kirchlichen Situation mit Empörung und Ablehnung. Der Münchener Kardinal Faulhaber erlaubte es nicht, daß Ida Görres einen Vortrag in dem Seminar seines Bistums hielt.
Nebenbei gesagt, Ida Görres gab genau die programmatische Linie an, die die Zeitschrift in den Jahrzehnten dann einhielt, wenn es galt, kirchliche Zustände zu beurteilen. Sie hat mit ihrem „Brief“ die geistige Physiognomie der Zeitschrift, die als linkskatholisch galt, entscheidend geprägt. Für heutige Leser ist überraschend und höchst aufschlußreich, daß die Frankfurter Hefte sich nicht nur wie keine andere Monatsschrift, wie keine andere Zeitung, mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit befaßten – schließlich hat Eugen Kogon mit knapper Not Buchenwald überlebt und in seinem Buch über den SS-Staat die erste politologische Analyse des nationalsozialistischen Regimes vorgelegt. Die Zeitschrift beschäftigte sich auch mit den weniger sensationellen, den eher alltäglichen gesellschaftlichen und intellektuellen Problemen der Gegenwart.
Was aber die religiösen oder kirchlichen Dinge angeht, so stellt der „Brief“ der unerschrockenen Autorin ein erstaunliches Korrektiv für die zeitgeschichtliche Einschätzung dar. Die gewöhnliche Meinung über die Nachkriegsjahre lautet, daß nach der geistigen Katastrophe des atheistischen Hitlerreiches eine Restauration, eine kräftige Wiederbelebung des Christentums stattgefunden habe, was heißen soll, daß die Kirchen Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik bis in die sechziger Jahre effektiv geprägt haben. Demgegenüber beschreibt im zweiten Nachkriegsjahr Ida Görres mit scharfem Blick das triste Negativbild kirchlichen Lebens, nachweisend, daß es mit dem Geistesleben dieses angeblich revitalisierten Christentums nicht besonders weit her ist. Daß die Nachkriegszeit eine Restaurationsepoche war, hat übrigens Walter Dirks als erster Publizist erkannt und beschrieben.
Von der offiziellen Kirche abgelehnt, fand Ida Görres jedoch die Zustimmung jüngerer Theologen, darunter auch die Freundschaft Joseph Ratzingers, der sie 1970 kennenlernte: „Ich habe sie auch begraben. Sie hatte die Einführung in das Christentum gelesen und war begeistert und glücklich darüber“, daß das Buch von einem jungen Theologen stammte, „der modern und gläubig“ war (Ratzinger, Letzte Gespräche 2016, 114).
Was die langfristige Wirkung des "Briefes" angeht, so kann man gar nicht stark genug den Einfluß betonen, den die in dem „Brief“ vorgenommene scharfsinnige Diagnose kirchlicher Zustände auf Heinrich Böll ausübte. Seine ebenso bittere wie radikale Auseinandersetzung mit der Amtskirche seiner Zeit ist ohne diesen „Brief“ schwer denkbar. In seinen Romanen findet man dieselben Schattenseiten des Kirchenlebens beschrieben und angeprangert wie in Görres’ Sendschreiben (cf. , Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, S.53ff.).
Die Brisanz des entlarvenden „Briefes“ und seine unverminderte Aktualität besteht nun darin, daß er sich nicht, wie bei den heutigen Mißbrauchsfällen, auf zweifelsfrei kriminelle Vergehen von Kirchenleuten bezieht, sondern auf die normalen Zustände des katholischen Religionsverbandes, das gewöhnliche Verhalten seiner Vertreter und die eingefahrene Praxis seiner Institutionen. Im Brennpunkt steht der Alltag der katholischen Religionsausübung.
Der "Brief" ist geschickt angelegt, er wendet sich an einen Außenstehenden, der den angeblich im Volke verwurzelten Katholizismus hauptsächlich aus ästhetischen und psychologischen Gründen bewundert und, wie diese Einstellung verrät, einen rein funktionalistischen Begriff der Religion hat. Der Katholizismus ist seines Erachtens gut, nicht weil seine Lehre wahr ist, sondern weil sie nützlich ist.
Er sieht nur „das Malerische der Mönche im Chor, die Haltung, die geistige Überlegenheit“. Was er beneidend an der Kirche bewundert, ist: „der pädagogische und künstlerische und kulturelle Reichtum, das seelische Geborgensein in einem Kosmos von unerhörter, einziger Fülle“ (FH 1.1946.718 u.727). Daß er die Religion funktionalistisch, als ein Mittel zur Erfüllung geistiger Bedürfnisse betrachtet, ergibt sich aus seiner Bewunderung der Kirche, die er für eine Gemeinschaft hält, „die ja dem, der ihre eigentümliche Metaphysik anzunehmen imstande ist, das sacrificium intellectus mit einem verschwenderischen Schatz von Tröstung, Führung und Erbauung vergilt“ (S.717). (Zum sacrificium intellectus, dem Opfer des Verstandes: , Zur christlichen Philosophie bei Karl Rahner, S.171ff.).
Diesen Illusionen stellt Görres das wahre Gesicht der Kirche gegenüber, das klägliche Versagen ihrer Institutionen und Amtswalter. Sie vermißt in humanitären Einrichtungen der Kirche oft genug die „simpelste Gerechtigkeit im Geschäftlichen“ und fällt über kirchliche Schulen und Internate ein vernichtendes Urteil, genau wissend, „für wie viele Zöglinge der Weg durch ein solches Haus der Weg zum Unglauben war“ (l.c. 721). Mit diesem Urteil berührt sie den innersten Kern des Religionsproblems.
Über die notorischen Mängel der Verkündigung schreibt sie: „Waren Sie nie erschüttert über das lebensfremde, gewichtlose, völlig belanglose Geschwätz, das uns so oft vorgesetzt wird? … Warum ist eine anständige Predigt in der normalen Seelsorge eine Ausnahme?“ (l.c. 720f.) Den gutwilligen Adressaten fragt sie: „Haben Sie eine Ahnung, wie wenig das Volk eigentlich an den Geheimnissen des Glaubens teilnimmt, mit wieviel flacher Erbaulichkeit es abgespeist wird, mit trocken rationalistischer Moral oder mit leeren, tönenden Fremdwörtern aus der Halbbildung des Verkünders?“ (S. 719) Zur Begründung ihres Vorwurfs erwähnt sie auch den innerkirchlichen Widerstand, der der „liturgischen Bewegung“ seiner Zeit entgegengebracht wurde.
Sie beklagt „die herzlose, geradezu unanständige Hast“, mit der oft die Messe gefeiert werde, und kritisiert die „Gemütsarmut, Kargheit und Unerzogenheit des Herzens“ vieler Priester und die demonstrative Weltlichkeit mancher Pfarrer, ihre seelische Unreife und ihr unschickliches Verhalten gegenüber Frauen, offenbar Defizite eines unbewältigten Zölibats (l.c. 719, 724). Sie fügt aber nüchtern hinzu, daß viele Priester gewiß nicht zu den „Berufenen“ gehören (l.c. 731). Sie stellt die Tatsache fest, daß bei vielen Kirchenleuten der Eifer für „Machtpositionen“ stärker entwickelt sei als der Eifer für seelsorgliche Belange (l.c. 726). In diesem Kontext kann dann die Erwähnung „nichtssagender Hirtenbriefe“ nicht mehr überraschen (723).
Aufgrund ihrer Lebenserfahrung und in Anbetracht der unvollkommenen menschlichen Natur kommt sie zu dem lapidaren Fazit: „Als ob die Kirche jemals ohne ‚Mißstände‘ wäre oder auch nur sein könnte!“ (719) Sie erklärt, genau zu wissen, „daß es sozusagen chronische Übel in der Struktur der Kirche geben muß. Zum Beispiel alle Belastung, die ein auf Autorität und Gehorsam gebautes Gebäude haben muß, das von Menschen, wie sie sind, verwirklicht wird.“ Dem aber fügt sie wie selbstverständlich hinzu, was alles andere als selbstverständlich ist, wohl aber einer genuin christlichen Einstellung entspricht: „Und so gibt es eine christliche und eine katholische Traurigkeit als Gewohnheit“, und eine „Nachsicht gegen die natürlichen Gebrechen des andern“ (730). Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß damit die Mißstände erklärt, aber nicht entschuldigt sind.
Schließlich beantwortet sie die Kernfrage, warum sie denn trotz der angeführten Gravamina, d.h. der schweren Vorwürfe gegen Kirche und Klerus, dennoch katholisch sei, mit den Worten, daß sie an die Wahrheit der christlichen Lehre glaube, die von der Kirche vermittelt werde. Daß die Autorin trotz ihrer noblen Einstellung bei den offiziellen Kirchenvertretern kein Verständnis fand, lag offensichtlich daran, daß diese Figuren genau jenen „starr autoritären, dünkelhaften und unduldsamen“ Klerikalismus verkörperten, den sie ebenso präzis wie wortreich angeprangert hatte (726).
Das kurze Referat dieses „Briefes“ dürfte deutlich genug gezeigt haben, welche Anklagen auch auf die heutigen Zustände der Kirche zutreffen und welche Punkte historisch geworden sind und sich erledigt haben. Aber wohlgemerkt, die Autorin, die sich durch eine ungewöhnliche Geistesfreiheit auszeichnet, spricht nicht von kriminellen Untaten einiger Kleriker, sondern von vermeidlichen und unvermeidlichen Kalamitäten des kirchlichen Alltags. Ihr „Brief“ enthält manche Anregung, was auch heute besser gemacht werden könnte und sollte. Die Situatonsanalyse von Ida Görres erreicht aber eine Schärfe und Tiefe, zugleich eine Umsicht, wie man sie bei der derzeitigen Kirchenkritik nur selten antrifft.