Josef Quack

Drama der Leidenschaft in Istanbul
Les clients d'Avrenos (Simenon)




Bernard de Jonsac, 40 Jahre alt, distinguiert auftretend mit Monokel, Dolmetscher der französischen Botschaft, begegnet während der dreißiger Jahre in Ankara, der neuen Hauptstadt der Türkei, in einem Kabarett der jungen ungarischen Tänzerin Nouchi, 17 Jahre alt. Inmitten des Betriebs entsteht eine „Oase der Intimität“ zwischen den beiden (S.18). Sie fahren zusammen nach Istanbul und wohnen in einem Zimmer. Zunächst heißt es, es bestehe kein Band zwischen ihnen, dann liest man von der „Kraft des Bandes zwischen ihm und der Tänzerin“, als die Fremdenpolizei erklärt, daß Nouchi ausgewiesen werde (S.51). Daraufhin heiratet Jonsac die Tänzerin pro forma. Es ist von Seiten Nouchis ein rein vernünftiges Arrangement, da sie niemals einem „Mann gehören“ möchte (S.89). Für Jonsac aber ist es eine unerfüllte leidenschaftliche Beziehung.

Nouchi lernt in dem Speiselokal von Avrenos bald die Freunde Jonsacs kennen: den Journalisten Tefik, den ehemaligen Bankier Ousoun, Mufti und seinen albanischen Freund, Selim. Sie hält diese Leute nicht für interessant, weil sie nicht reich sind – das einzige, was für Nouchi zählt. Jonsac sagt über sie: „Unter dem alten Regime waren sie reich gewesen und sie hatten einen gewissen Rang in der Armee oder der Verwaltung gehabt. Sie haben nicht den Mut, einen regelmäßigen Beruf auszuüben und sie ziehen es vor, von kleinen Renten zu leben. Sie langweilen sich in der neuen Welt, an die sie sich nicht anpassen wollen.“ (S.124)

Nouchi aber gelingt es, diesen männlichen Zirkel bald zu beherrschen und mit Mufti und Selim Freundschaft zu schließen. Ihr Leben besteht meist in abendlichen Essen, Haschisch rauchen, tanzen, bis in den frühen Morgen. Sie trifft aber auch einen einflußreichen Abgeordneten und einen Yachtbesitzer, der ihnen bequeme Ausflüge bietet – ein Leben des Reichtums, ganz nach dem Herzen Nouchis.

Sie lernen auch Lelia, 23 Jahre, kennen, Tochter aus reichem Hause, und Jonsac freundet sich mit ihr an. Als sie bei einer intimen Begegnung von Nouchi überrascht werden, springt Lelia vom Balkon in die Tiefe. Sie überlebt mit einem Beckenbruch und bleibt in der Folge auf Krücken angewiesen. Ihre Eltern erheben keine Klage, sondern wollen den Vorfall nicht publik werden lassen. Das Drama ändert aber die Beziehung zwischen Nouchi und Jonsac. Es entsteht nun eine wirkliche Intimität zwischen beiden, ein Verhältnis, wie es sich bei ihrer ersten Begegnung angedeutet hatte (S.185).

In Les clients d’Avrenos (1935; Paris 2021), Die Kunden von Avrenos, kommen drei Gedanken zur Sprache und bestimmen die Handlung mehr oder weniger stark: ein Konflikt der Leidenschaft, der Ehrgeiz, reich zu werden, und die unvergleichliche Atmosphäre und Faszination des Ortes.

Was die Leidenschaft angeht, so hat Simenon in späteren Romanen ihre Erscheinungsweise ausführlich beschrieben und über ihr Wesen angestrengt reflektiert. Er behauptet sogar, daß er sie erst jetzt erlebt und verstanden habe, was sie bedeutet. In diesem Roman aber hat er typische Aspekte der Passion schon benannt, wenn auch nicht näher ausformuliert und gestaltet. Über das Rendezvous Jonsacs mit Lelia heißt es: „Physisch war er ohne Verlangen. Niemals war er leidenschaftlich gewesen, noch sinnlich. Er streichelt die Haut Lelias, aber zu einem genauen Zweck und, was seinen Blick glänzen ließ, war der bevorstehende Sieg.“ (S.156)

Damit ist angedeutet, daß zur erotischen Leidenschaft meist ein gewaltsames Moment gehört, und die Beobachtung, daß Liebe und Leidenschaft nicht das gleiche Phänomen sind, Ideen, die Simenon später ausführlich behandeln wird (cf. Leidenschaft im Werk Simenons, S.143ff.). Außerdem kommt ein weiteres Motiv der erotischen Leidenschaft zur Sprache, die Überwindung der Einsamkeit, der hier die Erfahrung oder die „Offenbarung des Paares“ entspricht (S.56f.). Es ist eine psychologische Entdeckung Simenons und ein Leitmotiv seines Werkes (cf. Leidenschaft im Werk Simenons, S.146).

In Le haut mal war das Motiv der überwundenen Armut ein verschwiegenes Thema, das den Schlüssel für das Verhalten der Protagonistin bildet (Rezension). In Les clients d’Avrenos beherrscht dieser Gedanke dagegen das Sinnen und Trachten Nouchis in jedem Moment ihres Lebens: „Sie haßte die Armut und die Armen, vielleicht weil sie sich an ihre Kindheit erinnerte. Hatte sie nicht die Augen auf die Welt in dem Augenblick geöffnet, wo Wien vor Hunger starb?“ (S.34) Und über ein Photo heißt es: „Das war im schlimmsten Augenblick des Nachkriegs – während Tage und Tage aß man nur Rüben“. (S.85)

Im Kontrast dazu besteht für sie das „wahre Leben“ darin, in einem starken Auto zu fahren und umschmeichelt zu werden (S.101). Ein Ausflug mit reichen Leuten imponiert ihr: „Sie war der Mittelpunkt des Trefffens und das allein zählte. Sie fühlte sich schön und begehrt. Sie erlebte im ganzen das Maximum von Glück, das sie sich vorstellen konnte“ (S.103). Auf der Yacht zu fahren und erleben, wie ihre Wünsche erfüllt werden, bedeutet für sie: „Das war leben, genau das! Und sie lebte! Sie atmete durch alle Poren die Süße der Luft ein, die Sonne, die wollüstige Feuchtigkeit des Bosporus.“ (S.108)

Dem steht die düstere Gefühlslage Jonsacs gegenüber, der gelegentlich den Eindruck hat, „in einem unbeständigen Universum“ zu wandern (S.63) – ein kosmisches, an Joseph Conrad erinnerndes Leitmotiv Simenons. Ebenso der Ausdruck „le vide“, die Metapher für existentielle Sinnlosigkeit – das Wort gilt Lelias Sturz vom Balkon: „in die Leere geworfen“ (S.169). Von Jonsac heißt es, bezogen auf seine Lage zwischen den beiden Frauen: „Er war traurig, von einer dämmerungshaften Traurigkeit“ (tristesse crépusculaire) (S.110). Als Lelia bei einem Ausflug sagt: „Man könnte sagen, daß Sie traurig sind“, heißt es: „Er antwortete nicht und sie setzten den Gang im Schweigen fort. Der eine wie der andere, sie stopften sich mit Melancholie voll.“ (S.126) Auch dies ein Wesensmerkmal des Œuvres von Simenon (cf. Über Simenons traurige Geschichten).

Das Verhalten Lelias aber wird durch Scham beherrscht, ihr Sturz vom Balkon ist durch Scham verursacht, ebenso ihr Selbstmordversuch nach ihrem Sprung in den Bosporus, den sie unbekleidet unternahm, weil sie die üppige Geselligkeit jenes Menschenzirkels nicht ertragen konnte: „Am nächsten Morgen, hatte ich so sehr Scham, daß ich sterben wollte“ (S.147).

Hier kann man daran erinnern, daß das Phänomen der Scham als menschliches, höchst verstörendes Erlebnis, eine eigentümliche Form des verunsicherten Selbstbewußtseins, recht eigentlich erst von der Existenzphilosophie entdeckt und untersucht wurde. Sartre schreibt: „Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein.“ Und im Schamgefühl „erkenne ich an, daß ich bin, wie andere mich sehen“ (Das Sein und das Nichts. Hamburg 1980, 381 u. 300). Dieses überstarke Erlebnis wird in der Schlüsselszene des Romans fast schmerzhaft vor Augen geführt.

Wer eine Stadt aus der Ferne kennenlernen will, hat zwei Möglichkeiten: einmal kann er den Baedeker lesen oder entsprechende Filme ansehen, dann kann er Romane lesen oder Filme anschauen, deren Geschichte in der Stadt spielt.

Der zweite Weg ist der ideale Zugang, er vermittelt durch seine Handlung den stärksten Eindruck von der Stadt. Was Paris angeht, so hat Leo Mallet diesen Weg systematisch beschritten und planmäßig sehr witzige, heute leider vergessene Romane über die Stadtviertel von Paris geschrieben (cf. Die Grenzen des Menschlichen, S.20ff.), und viele Maigrets leben fraglos auch von dem Flair der Stadt – umgekehrt lernt man aus ihnen wiederum auch die Stadt kennen.

In Les clients d’ Avrenos wird nun Istanbul zur Zeit kurz nach der laizistischen Revolution Kemals geschildert, das gesellige Leben einiger Müßiggänger, die von der Atmosphäre, den sinnlichen Reizen und den Bequemlichkeiten der Stadt derart gefesselt werden, daß sie sich nicht entschließen können, anderswo zu leben.

Angesichts der angesprochenen Themen kann man nur bedauern, daß Die Kunden von Avrenos eher eine Romanskizze als ein durchgeformtes Erzählwerk sind. Die Andeutung über das Schicksals-Motiv (S.164) ist allzu kurz, um aussagekräftig zu sein. Vor allem aber ist zu beklagen, daß die Dritte im Bunde der Protagonisten, Lelia, nicht so genau porträtiert und seelisch so intensiv beleuchtet wird wie Nouchi und Jonsac. Immerhin ein Roman, der einiges zu denken übrig läßt.

J.Q. — 5. Nov. 2024

© J.Quack


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