Josef Quack

Amerikanische Sorgen und Helmut Schmidts Ansichten




Ein Politiker aber, der unfähig ist, die Leistung anderer Politiker anzuerkennen, kann selbst kein bedeutender Politiker sein.

J.Q.

Fast täglich wird in den Nachrichten gemeldet, daß der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten alles daransetzt, um die Machtbefugnisse seiner Regierung zu stärken und zu erweitern. So ist in Amerika eine leidenschaftliche Diskussion darüber entstanden, ob diese Kompetenz-Erweiterung der Exekutive mit der Verfassung des Landes vereinbar sei oder nicht. Die Antwort darauf ist positiv und sie wurde vor achtzig Jahren von niemand anderem gegeben als von Kurt Gödel, dem berühmten Mathematiker.

Er lehrte damals als Emigrant in Princeton. Er wollte 1948 amerikanischer Staatsbürger werden und fragte Einstein, was er tun solle. Einstein riet ihm, sich mit der amerikanischen Verfassung vertraut zu machen, da alle Fragen zur Einbürgerung auf die Verfassung zurückgingen. Gödel studierte die Verfassung genau und sagte dann zu Einstein: „Also, ich habe jetzt wochenlang daran gearbeitet und bin zu dem Schluß gekommen, das kann auch schief gehen, die Verfassung kann auch zu einer Diktatur durch den Präsidenten führen.“ Darauf Einstein: „Um Gottes willen, sagen Sie so etwas nicht vor dem Richter.“ Bei der Prüfung fragte der Richter Gödel, wo er herkomme. Gödel: „Aus Österreich. Es wurde erst demokratisch regiert, und dann kam es zu einer Diktatur.“ Darauf der Richter: „Das kann in unserem Land nicht passieren.“ Da sagte Gödel: „Nein, nein, es kann passieren. … Der Verfassung nach, ist es tatsächlich möglich, daß Amerika eine Diktatur wird.“ Gödel wurde trotzdem eingebürgert.

So berichtet der Historiker Fritz Stern in dem mit Helmut Schmidt verfaßten Buch Unser Jahrhundert (2010, 127f.)

Übrigens hat Gödel ein mathematisches Theorem entdeckt, das „seine Unsterblichkeit besiegelt“, wie W.V.O. Quine sagt, den Satz der Unvollständigkeit der elementaren Zahlentheorie. Er besagt, daß einige wahre Aussagen der elementaren Zahlentheorie unbeweisbar bleiben, egal was für Beweisregeln man ersinnen mag. Dieser Satz aber widerlegt die allgemeine Meinung, daß die mathematische Wahrheit in Beweisbarkeit bestehe – was erhebliche Folgen für jedes systematische Denken hat (Quine, Theorien und Dinge. Frankfurt 1991, 177f.).

Inzwischen gab es mehrere Gesetze, die die Rechte des amerikanischen Präsidenten einschränkten. Es wäre also zu prüfen, ob dadurch die Behauptung Gödels widerlegt würde.

Eine Bemerkung von Fritz Stern ist auch von unverminderter Aktualität. Er fordert, die amerikanische Wirtschaft müsse wieder in Ordnung kommen, es müsse ein besseres Gleichgewicht zwischen Import und Export hergestellt werden: „Im Moment kaufen die amerikanischen Verbraucher alle möglichen Güter aus dem Ausland, ohne selber in der Lage zu sein, die von ihnen produzierten Güter im Ausland zu verkaufen. Bisher waren die Amerikaner aufgrund ihres riesigen Binnenmarktes aber weniger gezwungen, für den Weltmarkt zu produzieren.“ (Unser Jahrhundert S.201). Genau dieses Problem sucht der jetzige Präsident durch seine Zollpolitik zu lösen – mit welchem Erfolg ist noch ungewiß.

Eine dritte Bemerkung Fritz Sterns zu Amerika ist dagegen lückenhaft oder unvollständig. Er behauptet, daß Henry Kissinger die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 nicht wirklich gewürdigt habe. Er habe die Gefahr gesehen, daß die Konferenz die von den Sowjets im Nachkrieg gewaltsam geschaffenen Grenzen in Osteuropa legitimiere. Diese Beobachtung ist richtig. Stern vergißt aber hinzuzufügen, daß die Ford-Regierung es war, die die Klausel in den Vertrag einfügte, daß „Grenzen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können“. Diese Feststellung wurde später die rechtliche und politische Voraussetzung für die deutsche Einheit (H. Kissinger, Jahre der Erneuerung 1999, 512).

Helmut Schmidts Vermutung, nicht Kissinger, sondern Gerald Ford habe den Ausschlag gegeben, daß Amerika sich an der Konferenz beteiligt, ist unbegründet, da der Präsident sich in dieser Frage mit Kissinger abgestimmt hat. Es ist eine jener schnell-fertigen forschen Behauptungen, die der als Kanzler gescheiterte oder glücklos gebliebene Politiker in seinen älteren Tagen praktisch zu allem und jedem von sich zu geben pflegte. Sein Beitrag zu dem Gespräch mit Fritz Stern ist denn auch nichts anderes als eine Mischung von sachkundigen Auskünften in Wirtschaftsfragen, überheblichen Urteile über andere Politiker und unglaubliche Torheiten über Dinge, die er nicht kennt oder versteht.

Übrigens wird in diesem Gespräch ein folgenschweres Fehlurteil Fords im Nachklang zu Helsinki nicht erwähnt. In der Fernsehdebatte mit Jimmy Carter am 6. Oktober 1976 erklärte Ford, „für ihn stehe Polen nicht unter sowjetischer Herrschaft.“ Das betraf die Gefühle der Polen, nicht aber den realen Status des Landes, in dem sowjetische Truppen stationiert waren. „Die meisten Beobachter sind sich einig, daß die nachfolgende Kontroverse Ford knapp den Wahlsieg kostete.“ (Kissinger, l.c. 526)

Merkwürdig, daß die beiden Dialogpartner gelegentlich den älteren George Bush erwähnen, aber nicht daran denken, daß Bush unter Ford amerikanischer Botschafter in Peking und dann Leiter der CIA, außenpolitisch also bestens informiert war und insofern die idealen Voraussetzungen für das Amt des Präsidenten hatte.

Ich will hier nicht die Liste von Schmidts leichtfertigen Äußerungen wiedergeben, sondern nur auf sein unsäglich ignorantes Urteil über Wilhelm von Humboldt hinweisen, von dem er offensichtlich keine einzige Zeile gelesen hat. Er behauptet, in Deutschland habe es überhaupt keine Staatsdenker gegeben, worauf Stern entgegnete, es habe Hegel gegeben. Es wird aber nicht Kant erwähnt, der eine liberale Staatstheorie entwickelt hat. Er war von der Notwendigkeit des Staates überzeugt, die dem Menschen die größtmögliche Freiheit lassen sollte. Die Staatsidee Kants wurde dann von Wilhelm von Humboldt in der Schrift „Ideen, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ weiterentwickelt. Diese Schrift wurde ins Englische übersetzt und hat John Stuart Mills Buch „On Liberty“ (1859) entscheidend beeinflußt (K. Popper, Alles Leben ist Problemlösen. 1994, 227f.)

Merkwürdigerweise hat der Historiker Stern, Schmidts unwissendes Diktum korrigierend, zwar Humboldt und Mill erwähnt, aber nicht die grundlegende liberale Staatsidee Kants, die auf diese Weise in die englische Debatte Eingang fand. Übrigens hat Schmidt sich öfter für seine Politik auf die Gesellschaftstheorie Poppers berufen. Den zitierten Aufsatz Poppers scheint er aber nicht gekannt zu haben.

Schmidt äußert sich auch abfällig über die Universitätsreform Humboldts, ohne ihre Bildungsidee überhaupt zu kennen. Der besser informierte Geschichtsforscher Stern hebt zwar die enormen Leistungen hervor, die Humboldts Konzept zur Folge hatte. Er fügt aber nicht konkret hinzu, daß die amerikanischen Eliteuniversitäten nach der Idee Humboldts eingerichtet wurden.

In seinem üblichen Stil des arroganten Tadels vermißt Schmidt in Humbodts Universität die Naturwissenschaften und vergißt das Offensichtliche, daß nämlich Röntgen, Hertz, Liebig, Planck, Heisenberg an Universitäten Humboldtschen Typs lehrten und forschten. Das Nichtwissen dieses Politikers in Fragen der Allgemeinbildung ist phänomenal. — Zu ergänzen wäre, daß um 1900 die deutsche Universitäts-Medizin weltweit an der Spitze der Forschung stand. Erwin Wickert berichtet, daß er noch in den 1940er Jahren in Tokio japanische Ärzte traf, die Deutsch konnten (J.Q., Lesen um zu leben S.103f.).

Schmidts ignorantes Urteil über Wilhelm von Humboldt kann man nur hahnebüchen nennen. Daß Humboldt einer der bedeutendsten, ein epochemachender Sprachphilosoph und Sprachwissenschaftler gewesen ist, scheint er auch nicht gewußt zu haben.

So viel über die Bildung oder Halbbildung eines angesehenen Politikers und Zeitungsherausgebers unserer Tage.

J.Q. 6. Dez. 2025

© J.Quack


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