Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums.
München 2014. 734 S.
Die handeln und die dichten –
das ist der Lebenslauf,
der eine macht Geschichten,
der andre schreibt sie auf,
und der will beide richten;
so schreibt und treibt sich’s fort,
der Herr wird alles schlichten,
verloren ist kein Wort.
Bevor man etwas zu diesem umfänglichen Werk sagt, muß man den Mut des Autors, von Beruf Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Marburg, anerkennen, die Geschichte eines Themas zu schreiben, die zweitausend Jahre umfaßt (1). Dann stellt sich die Frage, was einen Menschen dazu bringen kann, diesen Wälzer über die christliche Kulturgeschichte zu lesen. Vielleicht möchte er wissen, was das Christentum im guten und im schlechten zur Kultur Europas beigetragen hat (2). Schließlich, da der Autor protestantischer Theologe ist, möchte ein Leser vielleicht erfahren, wie der Autor aus seiner Perspektive diese Geschichte betrachtet und was er zu dem unübersehbaren Niedergang des Christentums im allgemeinen und seiner Konfession im besonderen in der säkularen Gegenwart zu sagen hat (3).
(1) Den Vorzug einer derart ehrgeizigen historischen Gesamtdarstellung hat Lauster selbst angegeben: „Es gilt, die Einsichten der Ereignis-, Sozial-, Ideen-, Geistes- und Mentalitätsgeschichte nicht gegeneinander zu stellen, sondern zu einem umfassenden Bild zusammenzuführen.“ (16) Daß er dabei seinen Standpunkt als deutscher Protestant nicht verleugnet, sondern bei der Wahl und Beurteilung der einzelnen Themen explizit ins Spiel bringt, ist, wie er selbst richtig bemerkt, kein Nachteil, sondern eher ein Vorteil seines Buches. Man weiß als Leser, woran man in dieser Hinsicht ist. Allerdings kann man nach der Lektüre den Eindruck nicht abwehren, daß dem Werk die leitenden Ideen fehlen, die den Text hätten strukturieren können. Das heißt aber nichts anderes, als daß es dem Autor nicht gelungen ist, die diversen politischen, sozialen und kulturellen Einsichten zu einem Gesamtbild, einem überzeugenden Panorama zusammenzufassen. Das ganze macht eher den Eindruck eines Mixtum compositum von religionsgeschichtlichen, kunst- und sozialgeschichtlichen Exkursen und Referaten. Man lernt eine Überfülle historischer Fakten und Vermutungen kennen, aber nicht eigentlich eine alle Aspekte gedanklich integrierende Gesamtdarstellung.
Die folgende Bemerkung stellt in etwa die Hauptthese des Buches über das Christentums dar: „Das Geheimnis des Anfangs ist die Transformation der Person Jesu zu Christus. Die Geschichte des Christentums lebt von dieser Transformation, sie ist als Ganze der fortgesetzte Versuch, mit allen kulturellen Ausdrucksformen die Spannung zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Christentums zu halten.“ (35) Diese These beruht auf der Behauptung, daß „das Christentum in der Form, in der es weltgeschichtlich wirksam wurde, nicht von Jesus gestiftet worden [sei], aber es auch nicht ohne seine historische Wirksamkeit denkbar [sei].“ Diese Formulierung ist typisch für die vage Denk- und Ausdrucksweise des Autors, auf die ich noch zurückkommen werde. Er will damit nicht bestreiten, daß Jesus ein Religionsstifter gewesen sei, er will diese These nur einschränken. Hier sei nur soviel gesagt, daß die zitierte Hauptthese in der weiteren Darstellung als konstruktives Prinzip des Textes jedoch kaum sichtbar ist.
Eine zweite Bemerkung gilt dem Religionsbegriff, der dem Werk zugrunde liegt. Als grundlegend gilt dem Autor in der Nachfolge von Schleiermacher und Rudolf Otto der Begriff des religiösen Erlebnisses. Er erklärt, daß aus christlicher Sicht „Jesus Christus selbst als die höchste Erscheinungsform des Heiligen in der Welt“ angesehen werde (19). Außerdem behauptet er: „Die Ostergeschichten antworten und reagieren auf einen Transzendenzeinbruch, den sie nicht anders denn als Auferstehung beschreiben können.“ Und er fügt hinzu, daß man diese Annahme historisch nicht beweisen könne, daß sie aber auch nicht absurd und unvernünftig sei. Im folgenden Text begegnet diese Denkfigur immer wieder. Es ist vielfach von der „Autorität des Heiligen“ oder der „Aura des Heiligen“ die Rede. Dabei wird nicht klar herausgearbeitet, daß hier eine theologische Interpretation eines Erlebnisses vorliegt. Daß ein bestimmtes inneres, mentales Ereignis als ein religiöses Erlebnis empfunden wird, hängt von der Theorie ab, in deren Licht das Ereignis gedeutet wird.
Eine dritte Bemerkung gilt dem romantischen, Novalis zitierenden Titel des Buches, der die persönliche Auffassung des Autors wiedergibt und kaum dem tatsächlichen Wesen des Christentums entsprechen dürfte. Die Titelformulierung setzt übrigens voraus, daß die Meinung Max Webers richtig ist, der die naturwissenschaftlich geprägte Welt der Moderne als Entzauberung der Natur beschrieben hatte. Das ist ein typisch soziologisches Klischee, dem viele Autoren, die etwas von der modernen Naturwissenschaft verstehen, wie Karl Popper, John Eccles oder Hoimar von Ditfurth, vehement widersprochen haben.
(2) Zu den Vorzügen des Werkes zählt, daß man eine riesige Menge detaillierter Informationen über die Wirkung erfährt, die das Christentum im Laufe der Jahrhunderte ausgeübt hat. Aus dieser Überfülle von Tatsachen und Erklärungen ragen die Kapitel über Luther und die Reformation hervor, der Abschnitt über J. S. Bach und vor allem die eindringlichen Ausführungen über den auch christlich motivierten langwierigen Kampf gegen die Sklaverei in Amerika. Erwähnen muß man auch, daß Lauster eine Entwicklung hinterfragt, die wir gewöhnlich für selbstverständlich halten: die christliche Besiedlung Nordamerikas, die die neueste Geschichte entscheidend geprägt hat.
Zu dem moralischen Standardargument gegen die Menschlichkeit des Christentums, zur religiös bestimmten Grausamkeit der Inquisition bemerkt er zu Recht, daß man sie im Kontext der weltlichen Gerichtsbarkeit sehen müsse, die damals noch brutaler war – was freilich die Praxis der kirchlichen Inquisition nicht entschuldigen kann. Allerdings erwähnt er nicht, daß der Hexenglaube und seine Unterdrückung auf heidnisch-germanische Ursprünge zurückgeht.
Lauster ist aber objektiv genug, um auch die unglücklichen Nachwirkungen und Nebenfolgen der Reformation zu sehen. Aufschlußreich ist zudem der Hinweis, daß es auch einen protestantischen Barock gegeben hat. Dazu wäre allgemein zu sagen, daß seine musik- und kunstgeschichtlichen Betrachtungen, alles in allem, noch am meisten überzeugen. Seinem Urteil über die vielfach banal gewordene Gegenwartskunst und die Ablösung der Kunstkritik durch den alles beherrschenden Kunstmark kann ich nur beipflichten.
(3) Damit ist auch die dritte Eingangsfrage nach der spezifisch protestantischen Sicht der Geschichte wenigstens in Andeutungen schon beantwortet. Am Schluß werde ich darauf zurückkommen. Hier sei vor allem erwähnt, daß der Autor offensichtlich mit dem Konzept des Kulturprotestantismus sympathisiert. Er deutet diese christliche Bewegung als eine antipodische Einstellung zum Barock: „Im Gegensatz zum Kulturkatholizismus des Barock, der alle Kulturformen von der Kunst über die Architektur bis hin zur Musik umfassend in den Dienst des Christentums stellte, beschritt der Kulturprotestantismus den umgekehrten Weg. Nicht die Kultur war Teil der Religion, sondern die Religion wurde als Teil der Kultur begriffen, um so die Aussöhnung zwischen Christentum und Moderne zu befördern.“ (528)
Mit dieser Ansicht ist auch schon ein heikler Punkt dieses Werkes berührt, den der Autor kaum expliziert, geschweige denn befriedigend beantwortet hat. Es handelt sich um die Frage aller kulturgeschichtlichen Fragen, was aus religiösen, christlichen Ideen und Gehalten wird, wenn sie als Kulturgut betrachtet werden. Denn es ist evident, daß der spezifisch religiöse Gehalt neutralisiert wird, wenn christliche Ideen rein ästhetisch oder rein utilitaristisch, eben als bloßes Kulturgut behandelt werden. Mit anderen Worten, muß man den Versuch, die christliche Religion zu einem Teil der Kultur zu machen, nicht als die Aufgabe, d.h. Auflösung dieser Religion betrachten? Das ist die zentrale Frage, die diese Kulturgeschichte nicht befriedigend beantworten kann.
An dieser Stelle sei außerdem noch betont, daß man die genannten Vorzüge des Werkes im Auge behalten soll, wenn im Folgenden auf die unübersehbaren Defizite des Werkes hingewiesen wird.
Zunächst wäre hier zu vermerken, daß der Autor wenig Sinn für die methodologischen Fragen hat, die sich bei einem so ehrgeizigen Vorhaben wie einer Kulturgeschichte aufdrängen, die zu schreiben rechtens nur der unternehmen kann, der über eine tragfähige Theorie sowohl der Kultur wie der Geschichte verfügt (cf. Geschichtsroman und Geschichtskritik , S.68ff.). Lauster sagt uns keineswegs, was er unter Geschichte und Kultur genau versteht.
Dann begegnet man in dem Werk einer seltsamen Art zu argumentieren, was heißen soll, daß es bei Lauster gelegentlich an der Konsequenz der Gedankenfolge mangelt. Typisch dafür ist, was er zur römischen Religion und zum Polytheismus zu sagen hat. Er behauptet zunächst, daß die römische Religiosität keinen Fanatismus kannte und wärmt zugleich den professoralen Einfall Jan Assmanns von der Rigorosität des monotheistischen Wahrheitsanspruchs auf, um hundert Seiten später darauf hinzuweisen, daß der römische Polytheismus für die Christenverfolgungen verantwortlich war, womit natürlich die Kathederweisheit Assmanns widerlegt ist. Übrigens hat vor Jahren schon Joseph Ratzinger gegen Assmann eingewandt, daß nicht erst Moses, oder Moses nicht allein, angesichts der Religionen die Wahrheitsfrage gestellt habe, die Religionen keineswegs alle gleichgeartet seien und die Option für das „Sklavenhaus“ Ägypten, die Assmann vorschlägt oder vornimmt, kaum überzeugen könne (cf. Zur Wahrheitsfrage bei J. Ratzinger).
Ein zweites Beispiel für die inkonsistente Denkart des Autors: Er behauptet, bei der Frage, warum das Christentum in der Antike überlebt hat, gehe es „um die Rechtmäßigkeit dieses Überlebens und damit um den Wahrheitsanspruch des Christentums“ (84). Wenige Seiten später widerspricht er seiner eigenen These, indem er erklärt, daß mit dem Erfolg des Christentums noch nichts über seinen „Wahrheitsgehalt“ gesagt sei (88).
Ein drittes Beispiel dieser Denkart: Er erklärt historisch zutreffend, daß Luther in der Taufe „alles, was dem Sakrament auch nur von Ferne einen magischen Hauch geben könne“, eliminiert habe. Anschließend verwendet er auf der gleichen Seite den Begriff der Magie in einem unbekümmert affirmativen Sinn, wenn er schreibt: „Im magischen Jahr 1520 führte Luther einen revolutionären Frontalangriff auf das jahrhundertealte Selbstverständnis der Kirche“ (301). Öfter noch begegnet einem der positive oder negative Begriff der Magie in diesem Buch, was allerdings in einem religionsgeschichtlichen Werk etwas unangenehm aufstößt. Denn nach der profunden Kritik, die Ludwig Wittgenstein an dem ethnologisch geprägten Begriff der Magie geübt hat, kann man das Wort heute nicht mehr so unreflektiert verwenden, wie es Lauster durchweg tut (cf. Ethnologische Fragen in philosophischer Sicht).
Überhaupt ist der Autor, wie angedeutet, kein Liebhaber klarer und deutlicher Begriffe. So wenig er uns präzis erklärt, was er unter Kultur versteht, so wenig klärt er uns darüber auf, was die Zivilisierung bedeutet, die angeblich mit der Verbreitung des Christentums oft verbunden war. Auch verschmäht er es, uns genauer zu sagen, was er unter ästhetischer Erfahrung im Gegensatz zu religiöser Erfahrung versteht. Damit sind zwei Begriffe genannt, die für den Gedankengang dieser historischen Darstellung eminent wichtig sind. Außerdem sieht er in der „Anerkennung von Dogmen“ und der „inneren Überzeugung“ einen konträren Gegensatz, obwohl man sich schwerlich eine Anerkennung von Lehrsätzen vorstellen kann, die nicht aus Überzeugung geschieht. Überdies redet er freiweg von „Gefühlen kosmischer Dankbarkeit“, die sich nicht mit Worten fassen ließen, ohne sich bewußt zu werden, daß die Charakterisierung dieser Gefühle als solche einer kosmischen Dankbarkeit eine außerordentlich informative Beschreibung dieser angeblich unfaßbaren Gefühle darstellt.
Gelegentlich macht er sich zu Recht über die „postmoderne Denkfaulheit“ lustig, doch zögert er nicht, in gleichem Geist zu behaupten, bei antiken Texten sei es sinnlos, zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden. Das mag allenfalls für Epen und Dramen gelten, aber keineswegs für die antike Geschichtsschreibung, die seit Herodot sehr gut zwischen Tatsachen und Dichtung bzw. Mythen unterscheiden konnte. So kann es nicht überraschen, daß der Autor begrifflich so unscharf wie nur möglich behauptet, die Christenverfolgungen seien „für das religiöse Selbstverständnis des Christentums zu einem identitätsstiftenden Mythos“ geworden – was immer das heißen mag. U. d. m.
In die gleiche Rubrik begrifflichen oder rationalen Ungenügens gehört auch manches, was Lauster zur Geschichte der Philosophie ausführt. Wenn er die These aufstellt, daß es zwischen christlichem Glauben und Vernunft keine Harmonie geben könne, gibt er natürlich die protestantische Grundüberzeugung wieder, die man nur respektieren kann. Keineswegs aber beschreibt diese These das philosophische Verständnis der christlichen Denker im allgemeinen.
Zum Universalienstreit, zur Frage, ob es neben den empirisch erfaßbaren Gegenständen der physischen Welt und neben den psychischen Zuständen der Seele auch noch abstrakte Gegenstände gibt, bemerkt Lauster: „Das nachmetaphysische Abendland unserer Tage stellt im Gegensatz zur philosophischen Tradition des Mittelalters aus Ermüdung und Erschöpfung diese Fragen nicht mehr; beantwortet sind sie deshalb noch lange nicht.“ Diese Behauptung ist noch nicht mal halb wahr. Denn gerade in der angeblich nachmetaphysischen Jetztzeit haben Philosophen wie W.V.O.Quine, K.Popper, W. Stegmüller und W. Künne diese Fragen nicht nur erneut mit beachtlicher Präzision gestellt, sondern auch mit überzeugenden Argumenten positiv beantwortet (cf. Ein Plädoyer für den Platonismus (W. Künne)).
Enttäuschend ist sodann, was Lauster über den herausragenden Philosophen und Theologen nicht nur des Mittelalters, sondern des Christentums insgesamt, Thomas von Aquin, zu sagen hat. Er hat von Thomas sicher keinen Text gelesen, er bringt eine magere Charakterisierung seines Denkens aus zweiter Hand, die nicht einmal die geistige Eigenart des Kirchenlehrers thematisiert. Offensichtlich hat der Autor die falsche Sekundärliteratur gelesen, sonst hätte er, etwa bei Josef Pieper, erfahren können, daß Thomas der erste Existenzphilosoph im metaphysischen Sinn gewesen ist, im Gegensatz zu Augustinus, der genau betrachtet ein Essenzphilosoph war. Außerdem hätte er von Michael Theunissen erfahren können, daß zu der außerordentlich fruchtbaren Wirkungsgeschichte des Thomas auch noch und gerade Sören Kierkegaard gehört.
Freilich Kierkegaard kommt in dieser Geschichte des europäischen Geistes so wenig vor wie Blaise Pascal – zwei christliche Denker, die auf die Intellektuellen der Moderne, die Philosophen, Psychologen und Schriftsteller unserer Zeit, einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausgeübt haben. Auch geht die Erneuerung der protestantischen Theologie, und in gewisser Hinsicht auch die der katholischen Theologie, im zwanzigsten Jahrhundert wesentlich auf Kierkegaards Existenzdenken zurück.
Statt dessen fällt Lauster über den deutschen Idealismus das höchste Lob, was aber nur möglich ist, weil er offenbar die philosophische Kritik an dieser philosophischen Bewegung der Romantik nicht zur Kenntnis genommen hat. Das überaus erhellende Werk von Eckart Förster über diese Epoche, das vor kurzem erschienen ist, ist ihm entgangen, obwohl er es hätte kennen können (cf. Eine bahnbrechende Leistung). Kant hinwiederum betrachtet er mit den Augen Heines, was gewiß amüsant, aber doch alles andere als tiefgründig ist.
Noch ärgerlicher fällt das Urteil aus, das Lauster in literarischen Dingen äußert. Er kann tatsächlich der Schilderung christlichen Lebens im Robinson Crusoe eine positive Seite abgewinnen, statt das Offensichtliche zu sehen, daß hier das Christentum als pure Konvention und äußerlichster Konformismus zum Ausdruck kommt – praktizierend, aber nicht gläubig, wie die sinnige Formel lautet.
Er erwähnt James Fenimore Cooper und sein „Buch ‚Lederstrumpf’“. Cooper hat aber kein Buch dieses Titels geschrieben. Lederstrumpf ist vielmehr der Name eines Jägers, dem er die fünf Bücher Die Ansiedler, Der letzte Mohikaner, Der Pfadfinder, Der Wildtöter und die Prärie gewidmet hat. Aus diesen fünf Romanen haben dann diverse Kinderbuchverlage ein Buch mit jenem Titel kompiliert. Woraus folgt, daß Lauster allenfalls das Kinderbuch kennt.
Dann fällt er auf einen frömmelnden Germanisten herein, der nicht wahrhaben will, daß Georg Büchner ein echter Atheist gewesen war.
Der Tiefpunkt geistiger Verirrung und Blindheit ist aber dort erreicht, wo der Autor über das Lied von Bernadette von Franz Werfel schreibt, es sei „eines der schönsten Werke über Lourdes“ (115). Ausgerechnet jener christliche Roman, der wegen seiner routiniert inszenierten Sentimentalität und offensichtlichen intellektuellen Unredlichkeit das Genre des christlichen Romans in Verruf gebracht hat, wird von unserem Autor überschwenglich, aber ganz unkritisch gelobt! Nicht nur Thomas Mann oder Ludwig Marcuse, sondern auch Germanisten katholischen Glaubens haben den Roman wegen seines fragwürdigen Geistes scharf kritisiert. (cf. Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, S.26f.) Dieses Fehlurteil entwertet so ziemlich alles, was Lauster hier über Literatur und Dichtung äußert.
Schließlich wären noch ein paar Leerstellen zu erwähnen, die unentschuldbar sind. In dieser Geschichte werden dem katastrophalsten Ereignis des Christentums in Deutschland, dem Dreißigjährigen Krieg, nur zwei kümmerliche Seiten gewidmet. Das Ergebnis dieses Krieges, der Westfälische Friede, der bis heute, bis zu Samuel Huntington und Henry Kissinger ein zentraler Orientierungspunkt weltpolitischen Denkens bildet, wird erst recht nicht in seiner eminenten Bedeutung erfaßt oder beschrieben.
Der gregorianische Choral übertrifft, was den musikalischen Rang und den religiösen Gehalt angeht, gewiß das deutsche Kirchenlied um einige Grade, nicht zu reden von seiner langen Tradition. Kann man es verstehen, daß er in dieser Historie des Christentums aus protestantischer Sicht nur mit einem Wort ein einziges Mal erwähnt wird? Ist es gerechtfertigt, daß die große lateinische Hymnendichtung, die der europäischen Lyrik nichts Geringeres als den Endreim vermacht hat und im „Dies irae“ und „Stabat mater“ Dichtungen hervorgebracht hat, die alle lateinische Poesie der Antike überstrahlen, überhaupt nicht erwähnt wird? Daß Lauster hingegen Franziskus für den größten Heiligen des Christentums hält, ist nicht mehr als seine unbegründete Privatmeinung, die sichtlich einer derzeit modischen Stimmung folgt.
Die Klassiker der Kulturgeschichte, Jacob Burckhardt, Oswald Spengler und Egon Friedell, waren, jeder auf seine unverwechselbare Art, glänzende Stilisten. Ihre Werke zu lesen, ist bis heute ein großes Vergnügen, und Friedell im besonderen, der übrigens längst die Anerkennung kompetenter Geisteswissenschaftler gefunden hat, schreibt immer lebendig, anschaulich, amüsant und pointiert.
Lauster dagegen pflegt allzu penetrant den Sprachstil der christlichen Predigt, den Jargon der vagen Erbaulichkeit, wenn er nicht gerade ins übelste Soziologendeutsch verfällt. Hier werden Menschen religiös umgetrieben und sie ringen als geistige Athleten mit dem Glauben, als lebten wir noch immer in den betulichen fünfziger Jahren. „Jesus lebte die Nähe…“ – um einen solchen Satz zu verstehen, muß man eine Menge Predigten gehört und allerlei verquere Überlegungen angestellt haben. Man wundert sich dann auch nicht, daß er im Hinblick auf Jesu Tod die Wendung von dem „Ausdruck einer ‚affektiven Betroffenheit’“ übernimmt, ein Wort aus dem zeitgenössischen Jargon des Psychokitsches, der längst Eingang in den Wortschatz unserer Kanzelredner gefunden hat.
Andere Redemuster und Formulierungen sind jedoch unzweifelhaft das geistige Eigentum des Autors. Er spricht von scheinbar, wo anscheinend gemeint ist; von einem geistigen Territorium, wo es sich um ein geistliches Territorium handelt; von chronisch, wo nur notorisch einen Sinn ergibt. Er liebt die Komposita mit „selbst“, gleichgültig, ob sie eine Bedeutung haben oder nicht: Jesu Selbstanspruch, Selbstdurchsetzung des Bildes. Dann schreibt er einen Satz, den man beim besten Willen auch nach längeren Studium kaum verstehen kann. Anläßlich der Politik Karls des Großen gegenüber den Sachsen schreibt er: „Der religiöse Herrschaftswechsel der Taufe kam damit einer politischen Kapitulation gleich.“
Man ist dann auch nicht mehr überrascht, wenn man zuletzt auch wieder dem unsäglichen Klischee von der „Banalität des Bösen“ begegnet. Dabei haben erfahrene Denker wie Jean Améry längst überzeugend nachgewiesen, daß diese Formel die falscheste und irreführendste Beschreibung des NS-Terrors ist, die man sich denken kann, und Hannah Arendt selbst hat sich in späteren Jahren von ihrer unglücklichen, aber verheerenden Formulierung distanziert.
Wenn man sich schließlich das Fazit ansieht, das der Autor aus seiner umfänglichen Historie zieht, dann muß man sich doch wundern, daß er nach dem Rundblick auf die durchgreifenden Wirkungen christlicher Ideen auf Politik, Gesellschaft und Kultur Europas in der Vergangenheit schließlich für die Zukunft außerordentlich bescheidene Erwartungen hegt. Im Grunde behauptet er nicht mehr, als daß die religiöse Transformation, die das Christentum bewirkt hat, das Lebensgefühl der Moderne nachhaltig geprägt habe, und deshalb sei es nicht richtig, einfach nur von einer Entchristlichung der Moderne zu sprechen. Anscheinend ist er damit zufrieden, daß wir innerhalb einer christlich geprägten Kultur leben. Daß es hierzulande nur noch eine kleine Minderheit praktizierender Christen gibt, scheint ihn nicht eigentlich zu bekümmern. — Man kann die folgende Vermutung nicht ganz von der Hand weisen: Lauster scheint der an Hegel erinnernden Meinung zu sein, daß das Christentum mit der tiefgreifenden Befruchtung der westlichen Kultur seine historische Mission erfüllt hat.
Seine Kritik an der gegenwärtigen Praxis seiner Konfession kommt nur gelegentlich und sehr verhalten zum Ausdruck. So spricht er einmal von der Aufklärungspredigt, wo man die Stallfütterung von Weidetieren thematisiert hatte, und fügt hinzu: „Darüber lustig machen kann sich freilich nur der, der nicht im 21. Jahrhundert die Erfahrung machen mußte, daß sich über noch weit banalere Themen einer Wohlfühlreligion predigen läßt.“
Am Ende muß man auch noch erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß er, in einem merkwürdig gearteten Geist der Ökumene, von einem Erstarken des Papsttums spricht — den Beweis dafür sieht er in nichts anderem als in dem Personenkult um die Päpste, der in den vergangenen Jahrzehnten weltweit medial inszeniert wurde. Ein krasses Fehlurteil, das uns daran erinnert, daß man keine Kulturgeschichte schreiben kann ohne eine gute Prise Kulturkritik.