Josef Quack

Anonyme Christen und mystische Christen
Was Rahner sagen wollte




Karl Rahner ist durch zwei Thesen oder Schlagworte auch im großen Publikum, über den engen Kreis der Fachtheologie hinaus, bekannt und berühmt geworden: durch das Schlagwort von den anonymen Christen und durch die provokative Voraussage seiner späteren Jahre, „daß der Christ der Zukunft ein Mystiker sein müsse oder er werde nicht mehr sein“, d.h. das Christentum werde aus der Gesellschaft ganz verschwinden (2,44). Es sind zwei extreme Glaubensformen und das Erstaunliche ist, daß beide Thesen von dem gleichen Theologen vertreten wurden. Dies allein ist schon ein Hinweis auf die Bedeutung Rahners.

Beide Thesen ergeben sich aus seiner Theologie, die er in seinem Hauptwerk Grundkurs des Glaubens (1976) systematisch dargestellt und begründet hat. Seine Theologie aber beruht wiederum auf der philosophischen Grundlage, die er in Hörer des Wortes (1941/1963) ausgearbeitet hat. Das heißt aber, daß man seinen theologischen Ansatz nur dann richtig verstehen und beurteilen kann, wenn man seine philosophischen Voraussetzungen kennt. Ich habe in der Christliche Philosophie bei Karl Rahner den Versuch gemacht, seine philosophische Argumentation rational zu reformulieren und in normales Deutsch zu übersetzen, so daß sie einigermaßen verständlich wird.

Nun gibt es aber nicht wenige Leute, denen die philosophischen und theologischen Voraussetzungen fehlen, die aber dennoch wissen möchten, was Rahner mit jenen Schlagworten eigentlich gemeint hat. Ihnen hat er in mehreren Gesprächen geantwortet und seine Thesen verständlich zu machen versucht.

I. Anonyme Christen

Diese These wird durch die folgende einfache Schlußfolgerung begründet oder plausibel gemacht.

1. Prämisse: Alle Menschen, die das ewige Heil finden, gewinnen es durch Christus, der für alle Menschen gestorben ist und alle geretteten Menschen erlöst hat. D.h. es gibt neben dieser Heilstat keinen anderen Heilsweg.

2. Prämisse: Menschen, die sich ernsthaft bemühen, nach ihrem Gewissen zu leben und die Nächstenliebe zu üben, sind im christlichen Sinne als gerechtfertigt zu betrachten.

3. Folgerung: Menschen dieser Art kann man anonyme Christen nennen.

4. Zusatz: Daneben bleibt selbstverständlich die Forderung bestehen, daß die Menschen sich der impliziten Beziehung ihrer Existenz auf Christus bewußt werden und in Glaube und Taufe sich zu ihm bekennen sollten. Es ist aber evident, daß sich dieser Zusatz nur begreifen läßt, wenn man Rahners Theorie der transzendentalen Erfahrung kennt (cf. Grundkurs S.178).

In Rahners Worten: „Anonymes Christentum heißt, daß ein Mensch in der Gnade Gottes lebt und sein Heil wirkt außerhalb der ausdrücklich verfaßten Christenheit. … Sagen wir mal, irgendjemand, von dem ich annehme, daß er, weil er seinem Gewissen folgt, sein Heil wirkt und in Gottes Gnade lebt, von dem muß ich sagen, daß er ein anonymer Christ ist, denn wenn ich es nicht sagen würde, dann würde ich ja im Grunde genommen voraussetzen, daß es einen echten, zum Ziel führenden Heilsweg gibt, der schlechterdings außerhalb an Christus vorbeiführt. Das aber kann ich nicht. Bin ich also dafür, daß alle Menschen in ihrem Heil von Jesus Christus abhängen, und bin ich gleichzeitig der Meinung, daß viele Menschen in der Welt leben, die Jesus Christus nicht ausdrücklich erkannt haben, dann bleibt mir meiner Meinung nach nichts anderes übrig, als dieses Postulat eines ‚anonymen Christentums‘ zu erheben.“ (2,75)

Zu „anonymer Christ“: „Diese Sache besteht darin, daß auch nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils ein Mensch, der in einer letzten, absoluten Weise seinem Gewissen treu ist …, daß sein solcher Mensch tatsächlich eine positive Beziehung zu Gott hat, das heißt, daß er implizit die Existenz Gottes bejaht.“ (2,92)

Dazu gehört die weitere Erklärung, „warum ein solcher Mensch nun auch eine positive Beziehung zu Jesus Christus hat. Aber darauf macht uns ja die Bibel zum Beispiel im Matthäusevangelium, Kapitel 25, auch schon aufmerksam, wenn Jesus sagt: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das Verhältnis zu Gott und Jesus Christus und das Verhältnis zum Nächsten sei zwar nicht dasselbe, aber stehe in einem unlöslichen Zusammenhang. (2,92f.)

Es ist bemerkenswert, daß Rahner in diesem Gespräch von 1979 zwischen Gottes- und Nächstenliebe genau unterscheidet. In einer früheren Schrift sprach er, wie Hans Urs von Balthasar zitiert, jedoch davon, daß die „radikale Identität“ der Gottes- und Nächstenliebe die „zentrale Botschaft Jesu“ gewesen sei. Das aber war der Ansatzpunkt für die scharfe Polemik, die Balthasar gegen die These des anonymen Christentums vorbrachte. Denn nach Rahners früheren Identitätsthese werde das Christentum zu einer Anthropologie oder einem unverbindlichen Humanismus eingeebnet oder reduziert (Balthasar S.86ff.).

Das Argument scheint mir schlüssig zu sein. Balthasar betont aber, daß er dem Gedanken Rahners zustimme, daß es außerhalb des christlichen Raumes eine fides implicita (impliziter, unausdrücklicher Glaube) und eine „entsprechende übernatürliche Liebe“ geben könne. Er verurteilt aber Rahners Begründung und betont die unaufhebbare Differenz zwischen einer Liebe zu Christus und zum menschlichen Nächsten (l.c..95). Schließlich spottet er, daß die Atheisten, die wir anonyme Christen nennen, uns als „anonyme Atheisten begrüßen“ könnten (l.c.104).

Übrigens ist Rahner in einem Gespräch von 1982 auf jene Kritik Balthasars eingegangen. Er spricht hier vorsichtiger von der „Zusammengehörigkeit der Gottes- und Nächstenliebe“ und vom „Zusammenhang oder einer gewissen, richtig verstandenen Einheit von Gottes- und Nächstenliebe“. Mit diesen Formulierungen, die den anstößigen Begriff der Identität vermeiden, trägt er aber jener Kritik schon Rechnung. Er meint – „sagen wir es vorsichtig“, wer die radikale Selbstlosigkeit lebe, sei „auf dem Weg zu Gott selber“ (2,269). Fraglos eine unverfängliche Formulierung.

II. Mystische Christen

„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein“ (2,34).

Dieses Diktum ist weitaus problematischer als das Schlagwort von den anonymen Christen und ich glaube nicht, daß diese These sich im strikten Sinne aufrechterhalten läßt. Hier war es sein Schüler Karl Lehmann, der das Wort ein wenig relativiert hat.

Rahner räumt ein, daß seine These „etwas prononciert“ oder „etwas überspitzt formuliert“ sei. Unter einem Mystiker versteht er in einem weiten Sinne einen Christen, der „eine unmittelbare, persönliche Gotteserfahrung“ kennt (2,35). An anderer Stelle erklärt er, es sei „etwas massiv ausgedrückt“, aber richtig.

Er begründet seine These damit, daß der Christ der Zukunft in einer atheistischen, areligiösen, ganz und gar säkularen Gesellschaft leben wird, in der sein Glaube nicht mehr wie in traditionellen christlichen Gesellschaften durch seine kulturelle Umwelt bestätigt und unterstützt werde. Die christliche Botschaft könne dann nur überleben, wenn sie von „der innersten Erfahrung des Menschen“ getragen werde (2,44). D.h. nur Menschen mit dieser Erfahrung können sich ohne äußere Hilfe in derartigen Gesellschaften als Christen behaupten.

Konkret heißt dies: „Die Überzeugung von der Existenz Gottes muß oder kann heute nicht einfach mehr durch eine Indoktrination von außen allein, durch die ideologische Macht der Gesellschaft, entstehen“. Sie muß auf eine Überzeugung personalster, innerster Art im einzelnen Menschen zurückgehen; gemeint ist eine „innere, existentielle, persönliche Erfahrung Gottes“ (2,43).

Die Möglichkeit einer solchen Erfahrung begründet er sodann mit den Worten: „Wenn eine unmittelbare, vorbegriffliche Erfahrung Gottes durch die Erfahrung der unendlichen Weite unseres Bewußtseins gegeben ist, dann gibt es eben so etwas wie eine mystische Komponente des Christentums“ (2,43). Mit dieser Aussage aber, die er nicht weiter erklärt, setzt er seine Theorie der transzendentalen Erfahrung in extrem verkürzter Form voraus. So nennt er die transzendentale Erkenntnis.

Er versteht darunter die Struktur unseres Erkennens und Handelns, insofern wir uns dabei in einem Vorgriff unausdrücklich auf das Sein im allgemeinen, letztlich auf das absolute Seiende beziehen. Die transzendentale Erfahrung ist aber keine eigentliche Erfahrung im Sinne eines bewußten Erlebnisses, sondern eine Erfahrung im analogen Sinne. Diese Theorie wird in Hörer des Wortes und im Grundkurs ausführlich dargelegt und begründet. Die Begründung umfaßt eine detaillierte Erkenntnistheorie und eine ausgearbeitete Ontologie, eine Seinslehre. In den Gesprächen verzichtet er aber darauf, diesen transzendentalen Ansatz seines theologischen Denkens zu erklären. — Das heißt aber nichts anderes, als daß Rahner es unterläßt, seine ursprüngliche Einsicht, das Fundament seiner ganzen Theologie, allgemeinverständlich auszudrücken oder darzustellen.

Wenn er nun von einer existentiellen oder inneren Erfahrung spricht, so meint er nichts anderes, als daß die implizite, unreflektierte Beziehung der transzendentalen Erkenntnis auf das absolute Sein tatsächlich erlebt werde. Anders ausgedrückt, eine existentielle Erfahrung in dem genannten Sinne sei nur möglich, weil es die beschriebene transzendentale Erfahrung gebe.

Im Grundkurs (S.45f.) spricht er davon, daß die Transzendenz des Menschen in der „Erfahrung der Mystik“ gegenständlich nicht vermittelt gegeben sein könne. Er erklärt aber nicht, wie das mystische Erleben eines impliziten, unthematischen Wissens beschaffen ist und überhaupt möglich sein könne (cf. J.Q., Christliche Philosophie bei Karl Rahner S.122f.).

Dazu wäre natürlich viel zu sagen. Ich werde mich mit einigen Bemerkungen begnügen. Rahner unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Arten von Erfahrung: eine indirekte religiöse Erfahrung, eine unmittelbare, von ihm mystisch genannte Erfahrung und die transzendentale Erfahrung, die keine eigentliche Erfahrung im Sinne eines Erlebens, sondern eine analoge Erfahrung ist.

Zum ersten Typ wäre zu ergänzen: „Wenn jemand merkt: Ich liebe, bin treu, ich trage Verantwortung durch, wo ich eigentlich der Reingefallene bin … - solche Erfahrungen sind ja im Grunde genommen schon Gotteserfahrungen, und die hat wahrscheinlich jeder, wenn er kein radikaler Bösewicht ist, im Grunde genommen schon gemacht“ (2,105).

Karl Lehmann hat gegen Rahners These von dem mystischen Christentum eingewandt, daß der Begriff der Mystik problematisch sei und nicht im gewöhnlichen Sinne aufgefaßt werden dürfe als ungegenständliches inneres Erlebnis oder als reiner Blick nach innen. Die personale Begegnung müsse durch die Bewährung der Tat im Leben ergänzt werden (Lehmann S.162).

Mein Fazit aber lautet: Der Begriff der mystischen Erfahrung ist ein theologischer Begriff. Die Aussage über das mystische Christentum der Zukunft ist jedoch eine psychologische Hypothese, die letztlich nicht überzeugen kann. Rahner behauptet, daß die Christen in einer säkularen Gesellschaft in Glaubenssachen auf sich allein gestellt seien und als Einzelne nur an ihrem Glauben festhalten könnten, wenn sie durch ein mystisches Erleben gestützt würden. Einzuräumen wäre, daß Rahner das Wort „mystisch“ in einem weiten Sinne gebraucht und nicht verlangt, daß jeder Christ ein Mystiker werden müsse wie Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz.

Gegen diese These kann man einwenden, daß im christlichen Sinne "glauben" per definitionem eine Sache der Willensentscheidung ist und daß diese Entscheidung auch die Menschen in einer christlichen Umwelt vollziehen müssen, wenn sie Christen sein wollen. Vor allem aber ist es durchaus denkbar, daß ein Christ in einer nichtrelgiösen, profanen Umwelt an seinem Glauben auch dann festhält, wenn seine Glaubenshaltung durch kein mystisches Erlebnis jener Art getragen oder ergänzt wird. Überhaupt scheint mir, daß in Rahners Gedanken über den Glauben das Moment der Entscheidung zu kurz kommt.

Zweitens scheint er hier, nicht aber im Grundkurs, die Überzeugungskraft der traditionellen Gottesbeweise zu unterschätzen, wie das Beispiel von Konvertiten des 20. Jahrhunderts lehrt. Alfred Döblin, Graham Greene, Sigismund von Radecki, Ernst Jünger ließen sich von diesen rational argumentierenden, auf die Vernunft des Menschen gestützten Beweisen überzeugen, bevor sie glauben konnten (cf. J.Q., Christliche Philosophie bei Karl Rahner S.145f.)

Rahner plädiert aber – mit jenem mystischen Erlebnis im Anschluß an Ignatius – für eine esoterische Form des Glaubensvollzugs, die nicht jedermanns Sache ist und auch nicht jedermann vorgeschrieben werden kann. Er hatte meist ein waches Gespür, wie man in Dingen der Religion zu modernen Menschen sprechen sollte. In diesem Fall hat ihn sein Gespür im Stich gelassen.

Literatur

Balthasar, Hans Urs von: Cordula oder der Ernstfall. Einsiedeln 1987.
Imhof, Paul u. Hubert Biallowons (Hg.), Karl Rahner im Gespräch. Band 1: 1964-1977. Band 2: 1978-1982. München 1983.
Lehmann, Karl: Es ist Zeit, an Gott zu denken. Freiburg 2000.
Quack, Josef: Zur christlichen Philosophie bei Karl Rahner. Hamburg 2022.
Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens. Freiburg 1976.

© J.Quack — 16. Juli 2023


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