Collega,
Hans Erich Nossack ist für mich kein Unbekannter. Ich habe ihn in meinem neuen Buch ausführlich zitiert, weil er sich zu meiner Überraschung als ein intelligenter Verehrer von Joseph Roth herausgestellt hat (cf. , Lesen um zu leben, S.45ff.). Auch ist er mir als Kenner der zeitgenössischen Literatur aufgefallen, mit einem sicheren Urteil über ein Meisterwerk Simenons (cf. , Über Simenons traurige Geschichten, S.16ff.). Außerdem habe ich ihm in der Schrift über die Poetik des Tagebuchs ein Kapitel gewidmet, weil er scharfsinnige Reflexionen über dieses umstrittene, allerlei Fragen aufwerfende Genre der Literatur beigesteuert hat (cf. , Über das authentische Selbstbild , S.112ff.). Seine Gedanken über die Echtheit oder Authentizität des literarischen Schreibens sind ungewöhnlich radikal, die selbstgefällige Pose der Schriftsteller war ihm unerträglich. Er gehört zu den seltenen Autoren, die einen Sinn für Literaturtheorie haben.
Sein eigenes Journal ist deshalb wichtig, weil es sozusagen das Innenleben des Literaturbetriebs der Nachkriegszeit (1943-1977) gut beschreibt. Er erzählt keine Klatschgeschichten wie Raddatz, sondern gibt sachliche Auskünfte, und während nicht wenige Schriftsteller auf ihr Werk fixiert und ganz unfähig sind, fremde Gedanken aufzunehmen, war er geistig offen und neugierig, darin übrigens mit Hermann Hesse verwandt!
Er hat einige Jahre bei Augsburg, dann in Darmstadt und Frankfurt gelebt, bevor er auf Drängen seiner Frau wieder nach Hamburg zog. Er war in der Mainzer und Darmstädter Akademie, im Orden pour le mérite, Autor des Suhrkamp-Verlages und mit den Allüren Unselds, den Lektoren bestens vertraut. Seine Frankfurter Jahre waren seine glücklichste Zeit, weil er hier am produktivsten war – wohl auch wegen der Anregungen, die er bekam: die Gesprächs-Aktivitäten seines Verlags, die Nähe zur Universität, wo er die Poetik-Vorlesung hielt, die Mitarbeit beim Radio, die Tage der Buchmesse. Dagegen hat er sich besonders scharf über die Ambitionen der Darmstädter Kunstschaffenden ausgelassen, und die Hamburger Kulturszene sah er sehr kritisch. Er kannte H. H. Jahnn, Adorno, Habermas, Bloch, fast alle deutschen Schriftsteller seiner Zeit, über die er sein Urteil nicht zurückhielt.
Ich kenne die kürzlich erschienene Biographie über ihn nicht, würde ihn auch nicht einen Jahrhundertautor nennen, aber doch einen wichtigen Romancier des Nachkriegs. Gemessen an den heutigen Autoren, war er eine respektable Größe. Er war der erste deutsche Autor, der nach dem Krieg in Frankreich gedruckt wurde und zwar in „Les temps modernes“, der Zeitschrift Sartres. Das zeigt, daß er mit seinem Werk wohl in den Umkreis der Literatur des Existentialismus gehört.
Man hat ihn oft mit Albert Camus verglichen und er hat diesem Vergleich zugestimmt. Er wurde aber nicht direkt durch die Schriften Camus‘ beeinflußt. So bleibt es ein Rätsel, wieso der norddeutsche Autor, der in unvergleichbaren Familienverhätlnissen, in einem kulturell und gesellschaftlich völlig verschiedenen Milieu aufgewachsen ist, geistig mit dem Algerienfranzosen verwandt sein und zu derselben Lebensauffassung kommen konnte.
„Was hat einer davon, recht zu haben? Es isoliert ihn nur“, heißt es in seinem Journal. Neben anderen Gedanken hätte ich auch diesen in meine „Bemerkungen“ aufnehmen können (cf. , Lesen um zu leben, S.175ff.). Ich verdanke ihm einen wichtigen Hinweis auf die Religionskritik Siegfried Kracauers und habe darüber einen philosophischen Aufsatz publiziert, in dem ich Kracauers Standpunkt, seine Haltung einer abwartenden Offenheit, dem religionskritischen Fatalismus Max Webers gegenübergestellt habe (cf. , Wenn das Denken feiert, S.54ff).
Daß Nossack heute fast vergessen ist, spricht nicht unbedingt gegen ihn, sondern gegen das Publikum, das ihn nicht kennt. Robert Walser, Ernst Weiß, Hermann Broch und viele, viele andere Autoren von Rang werden heute auch nicht mehr gelesen. Ändert dies etwas an ihrer Bedeutung? Nossack ist ein Geheimtip für Kenner, was er schon immer war. Von seinen Büchern konnte er nicht leben.
Nossacks durchaus originelle Gedanken verdienten eine gründliche Untersuchung. Es sind die Reflexionen und Ideen eines unbestechlichen Selbstdenkers, der sich selbst nichts vormachte und sich auch nichts vormachen ließ. Ich will die folgenden Zitate nicht kommentieren. Sie sprechen für sich selbst und zeigen, was ihn beschäftigte und was auch uns noch beschäftigen könnte, im Nachdenken, in Zustimmung oder Widerspruch.
Aus Nossacks Tagebüchern (1943-1977). Hg. Gabriele Söhling. Frankfurt: Suhrkamp 1997.
„Das Gefühl der eigenen Schuld und Sünde, das zwei Jahrtausende vorherrschend gewesen ist, hat sich, wenn ich mich nicht sehr irre, heute schon völlig verloren. Nicht nur in mir, in dem es vor der Katastrophe sich in einem letzten Aufbäumen noch einmal stark machen wollte, sondern bei allen denen auch, die wenig von sich wissen und deren wirkliche Einstellung immer eines hellhörigen Deuters bedarf. Wir alle empfinden das Entsetzliche und Beispiellose, was mit uns geschehen ist und geschieht, nicht als etwas, das wir verschuldet hätten und wofür wir verantwortlich wären, sondern als etwas, dem wir preisgegeben sind.“
10.9.1944
„Wenn wir der allgemeinen Situation Schuld an unserem Unglück geben, klagen wir doch immer nur unser persönliches Verhalten dieser allgemeinen Situation gegenüber an. Es gibt demnach eigentlich immer nur eine persönliche Situation.“
6.3.1947
„Warum schreiben Sie?
Antwort: Weil es mir Spaß macht.
Für wen schreiben Sie?
Antwort: Für die, denen es Spaß macht, mich zu lesen.“
10.8.1949
„Polemik, das bedeutet immer, sich durch Negation positiv gebärden. Nehmen wir an, es gäbe einen wirklichen Atheisten, dann wird er so sehr Atheist sein, daß Religion und Kirche für ihn gar nicht existieren und der Erwähnung wert sind, vielleicht sogar so sehr, daß er kirchliche Bräuche mitmacht, so wie man ja auch die Kleidung trägt, die die Mode verlangt, weil es einem überflüssig erscheint, durch andere Kleidung aufzufallen.“
3.3.1959
„Ich möchte nicht das schreiben, was andere auch schreiben können. Nicht aus Hochmut, sondern weil es überflüssig wäre und weil im Schreiben an sich kein besonderes Verdienst liegt. Es hat nur Wert, wenn ich das schreibe, was nur ich schreiben kann, ganz gleich, ob jemand es versteht.“
20.3.1950
„Der Künstler, überhaupt der geistige Mensch als Stellvertreter für alle die Unzähligen, die sich ein geistiges Leben ihren Kräften und ihrer Veranlagung nach nicht leisten können. Nichts als Stellvertreter sein, eine hohe Verpflichtung.“
21.12.1959
Über private Konflikte: „Dies Dasein ist so verlogen, daß ich verzweifelt bin. Es ist verhältnismäßig leicht, einen andern über die Situation hinwegzutäuschen, aber woher soll man die Kraft nehmen, sich selber zu täuschen?“
17.4.1963
Über Musil, der über „modische Seifenblasen wie Wildgans, Ludwig usw.“ schimpft: „Wie kann er den Erfolg dieser Seifenblasen beneiden, wenn man mit der Absicht angetreten ist, keine Seifenblase zu sein?“
11.7.1963
"Zur Weltliteratur der letzten dreißig Jahre würde ich 'Der kleine Mann aus Archangelsk' von Simenon rechnen. Die Tragödie an sich ist allerdings zeitlos, aber sie spielt vor dem Hintergrund unserer Zeitgeschichte. Das ist das traurigste Buch, das ich kenne."
15.6.1968 (cf. , Über Simenons traurige Geschichten, S.16ff.).
Zur Studentenrevolte. „Das Wort Revolution steht ihnen nicht an. Um es kurz zu machen: daß sie die Großväter von den Stühlen werfen wollen, ist ganz in der Ordnung, aber man kann eine etablierte Literatur nur durch bessere Literatur beseitigen, auf keinen Fall durch Politik. Man kann eine Politik nur durch Politik bekämpfen, aber nicht durch Philosophie (Hegel) und soziologische Slogans. Und man tut der Gesellschaft nichts an, indem man sie durch Faschingsgebaren verulkt und beschimpft. Die Hilflosigkeit ist deprimierend."
20.9.1968
"Das Böse der Banalität dürfte die bessere und zum mindesten weniger aktuelle Formulierung sein als die umgekehrte von Hannah Arendt, die wohl auch nur für den Typ Eichmann u. Consorten gedacht war."
22.3.1971
"Selbstentblößung und Aufrichtigkeit werden oft verwechselt. Im Gegenteil, ein gefälliger Lendenschurz ist aufrichtiger als posierte Nacktheit."
25.7.1975
"Man kann einen Autor anerkennen, auch wenn einem seine Meinung völlig konträr ist, wenn man ihm nur seinen persönlichen Einsatz glaubt, dann achtet man ihn. Mit anderen Worten, die glaubhafte Persönlichkeit ist wichtiger als die Meinung."
29.9.1975