Josef Quack

Naturlyrik in wissenschaftlicher Zeit


Rez.: Arno Dähling, Der Mond in poetischer Annäherung.
Aachen: Deutscher Lyrik Verlag 2016.



Wer heute Gedichte über den Mond schreibt, sieht sich zwei kaum zu überwindenden Handicaps gegenüber: einer respektablen Tradition berühmter Mondgedichte und der einfachen Tatsache, daß wir im Zeitalter der Mondflüge leben, wo das Gestirn nicht mehr der unerreichbare Gegenstand der Sehnsucht ist, sondern von Menschen heimgesucht wurde und wissenschaftlich weitgehend erforscht ist, eine unwirtliche, lebensfeindliche staubige Steinwüste ohne schützende Atmosphäre.
Mit diesem Problem wird Dähling, Jahrgang 1946, Kapuzinerpater, dadurch fertig, daß er es zum Thema seiner reflektierenden Gedichte macht. Dabei kommt er zu dem überraschenden Ergebnis, daß die wissenschaftliche Betrachtung des Mondes und die poetische Sicht des Gestirns sich nicht ausschließen, mehr noch, daß gerade die wissenschaftliche Sicht der Welt einen Aspekt des Wunderbaren oder Staunenswerten hat. Genau genommen heißt dies, daß auch die astronomische Erforschung des Kosmos eine ästhetische Qualität besitzt. Andererseits aber kann er feststellen, daß der Mond seine sinnliche Faszination als beherrschendes Gestirn der Nacht für unser Erleben keineswegs verloren hat. Dies ist die unerwartete Pointe dieser Texte, und Dähling sucht sie in seinem Zyklus in immer neuen Variationen in poetischen Bildern zu belegen.
Zur lyrischen Tradition dieses Motivs braucht man nicht viel zu sagen, da die signifikanten Mondgedichte bekannt sind. Klopstock beruft sich in seiner wehmütige Erinnerung an die frühen Gräber auf den „Gedankenfreund“: „Willkommen, o silberner Mond, / Schöner, stiller Gefährt der Nacht!“ In dem „Abendlied“ von Claudius, das in ein Gebet übergeht: „Der Mond ist aufgegangen, / die goldnen Sternlein prangen“, ist der Mond ein Vorbild der Stille und der Vollkommenheit im Gegensatz zur Fehlerhaftigkeit des Menschen. Für Goethe, dem wir viele Gedichte zum Thema verdanken, ist die Gestalt des Mondes eine Garantie für menschenmögliches, meist erotisch verstandenes Glück: „Nacht ist schon hereingesunken, / … Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd / Herrscht des Mondes volle Pracht.“ In Eichendorffs „Mondnacht“ endet das sinnlich vergegenwärtigte Erlebnis der Harmonie von Himmel und Erde mit einem Ausblick auf die eigentliche, die jenseitige Heimat des Menschen: „Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande, / Als flöge sie nach Haus.“ Die mit dem Mond verbundene Konnotation der Stille und der Ruhe, die sowohl Goethe und Eichendorff beschworen haben, kehrt dann in dem modernen Lied der Comedian Harmonists wieder: „Guter Mond, du gehst so stille“.
Mit dieser Tradition konfrontiert, sucht Dähling das poetische Problem dadurch zu lösen, daß er — entgegen dem zur Prosa neigenden Trend der heutigen Lyrik — genuin poetische Mittel anwendet, Reim, regelkonformen Rhythmus, prägnante Wortwahl, wobei er nicht zögert, auch modische Ausdrücke und Fremdwörter aufzugreifen und zu gelegentlich saloppen Reimen zu verbinden. Wenn man sich die Texte nun genauer anschaut, sieht man sofort, daß Dähling ein guter Beobachter ist und daß seine Stärke in der genauen, anschaulichen Beschreibung von Naturphänomenen und elementaren Erlebnissen liegt.
Das folgende Gedicht, mit dem sachlichen Titel „Nachts“, ist meines Erachtens in poetischer Hinsicht — neben dem großartigen „Silbermond“, den ich noch erwähnen werde — das gelungenste Gedicht des Zyklus. Es vereinigt intensive Anschaulichkeit und bewegten, vorwärts drängenden, metrisch gegliederten, lyrischen Rhythmus, die beiden wesentlichen Momente sinnlicher Vergegenwärtigung mittels der Sprache in der Dichtung. Abgesehen von den ein wenig gesuchten Reimworten der vierten Strophe klingen die übrigen Reime durchaus ungezwungen und, was essentiell ist, sie bezeichnen nicht nur formale Entsprechungen, sondern auch bedeutungsvolle Korrespondenzen. In diesem Gleichkang von Silben und dem Einklang der Gedanken besteht nach Karl Kraus das Ideal des Reimes (cf. J.Q., Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit, 2017, 72f.). Das Gedicht liest sich wie die Beschreibung eines impressionistischen Gemäldes im Städel, das die nächtlich beleuchtete, aufgewühlte See abbildet:

Draußen, wo die Wellen brechen,
braust das Meer in wilder Wut.
So als wollte sie sich rächen,
wirbelt sturmgepeitscht die Flut.
[…]
Gegen alle Dunkelheiten
streitet, kämpft an breiter Front
immer schon, seit ew‘gen Zeiten
hoch vom Himmel her der Mond.

Die letzte Strophe zeigt an, daß diese Gedichte nicht nur beschreibender Art sind, sondern meist auch Reflexionen oder Kommentare zu dem Dargestellten enthalten, gewissermaßen die Lehre, die der Autor aus den Naturphänomenen zieht. Hier ist es die für den Mond elementare, vielfach anwendbare Erkenntnis, daß er als Repräsentant des Lichtes der positive Gegenpol zum Dunkel der Nacht ist, dem Repräsentanten des Bedrohlichen und Negativen in mancherlei Hinsicht. Entscheidend ist, daß er der Gegenpart des Dunkels gerade mitten in der Nacht ist.
Ähnlichen Sinnes ist die Schlußstrophe von „Mundaufgang“, wo es diesbezüglich, wiederum überzeugend gereimt, heißt:

Da weicht die Finsternis, besiegt.
Es fliehn die drohenden Gestalten.
Das schwache Silberlicht genügt,
die Schreckgespenster fernzuhalten.

Mehrere Gedichte vermerken die physikalische Gesetzmäßigkeit seiner Bahn, die bewundernswerte Ordnung des Kosmos. Dabei denkt der Sprecher keineswegs zunächst an die antike Idee des Kosmos, auch nicht direkt an die religiös zu verstehende Schöpfung, sondern zunächst und vor allem an die astronomische Kosmologie, und er kann der natürlichen, gesetzmäßigen Harmonie, dem „kosmischen Gefunkel“, durchaus einen beträchtlichen ästhetischen Reiz abgewinnen. Als zuverlässig wiederkehrendes Gestirn ist der Mond Sinnbild für die zyklische Wesensart des natürlichen Lebens.
In dem zentralen Reflexionsgedicht „Der Trabant“ verzeichnet der Autor zunächst die physikalische Beschaffenheit des Gestirns, um dann erstaunt festzustellen, daß diese Aufklärung keineswegs eine Entzauberung bewirkt, sondern vielmehr das unmittelbare, sinnlich faszinierende Erlebnis intakt läßt:

Niemand versteht, seinen Zauber zu klären,
jenen geheimnisvoll wirkenden Bann,
der unsre nächtlichen Träume beschweren
oder so selig erleuchten kann.

Nicht zuletzt bedenken diese Texte die Einsicht, daß, aus der wahrhaft distanzierten Perspektive des Mondes betrachtet, die menschlichen Angelegenheiten ihre Wichtigkeit verlieren:

Der Mond dreht schweigend seine Runde
nach längst vorherbestimmtem Plan.
Er schaut sich nüchtern die Befunde
der Völker, ihre Mühsal an.

Durchaus gelungen, nahezu makellos sind auch die Kurzstrophen nach der Gangart der „poetischen Reitschule“ Liliencrons, um mich eines Ausdrucks von Rühmkorf zu bedienen. Sie haben die Überschrift „Silbermond“ und klingen in das nüchtern abwägende, kluge Resümee aus:

Er prüft die Fragen
im Schein des Lichts.
Empörte Klagen
beweisen nichts.

Nicht verschweigen will ich, daß ausgerechnet die Überlegungen des Schlußgedichts über „die reine Leere“ des Alls, verstanden als Metapher der „absoluten Ewigkeit“, und die unmotivierte, fatalistisch klingende „Ehrfurcht vor des Schicksals Macht“ wenig plausibel sind und recht eigentlich enttäuschen. Sie erinnern vage an verschwommene buddhistische Vorstellungen und harmonieren kaum mit den engelhaften Gesängen, die vorher erwähnt werden.
Wenn man von diesem lyrischen Ausrutscher absieht, kann man sagen, daß diese beschreibende und reflektierende Naturpoesie in der Tradition der Schule von Barthold Heinrich Brockes steht, der seine Dichtung als „Irdisches Vergnügen in Gott“ bezeichnet hat. Im Unterschied zu Brockes, der die ausführlichste Beschreibung und die explizit religiös zu verstehende Moral der Gedichte liebt, bevorzugt Dähling aber die kurze, bisweilen spruchartige Gedichtform und, wenn überhaupt, dann den verhüllen, impliziten Verweis auf religiöse Ideen. Man soll sich in dieser Hinsicht nicht von dem Beruf Dählings irreführen lassen. Da der Mond nicht expressis verbis als Geschöpf bezeichnet oder als Bruder angeredet wird, kann man diesen Gedicht-Zyklus sicher nur mit großem Vorbehalt eine moderne Variante des Sonnengesangs des Franziskus nennen. Die Gedichte geben vielmehr sozusagen die allgemein menschliche Erfahrung der Natur in wissenschaftlicher Zeit wieder.
Wenn ich diesen Zyklus gekannt hätte, hätte ich ihn in den Rückschritten der Poesie dieser Zeit als erfreuliche Ausnahme der heutigen Lyrik gewürdigt.

J.Q. — 29. März 2018
Absatz

Rez.: Arno Dähling, Die Jahreszeiten in poetischer Umschreibung.
Aachen: Deutscher Lyrik Verlag 2017. 192 S.

Der Band enthält eine Sammlung von Gedichten Dählings, die, soweit ich sehe, wenigstens in Teilen schon in früheren Ausgaben erschienen sind. Sie vermitteln nun einen lebendigen Eindruck von dem bunten Themenkreis und den besonderen Motiven, die der Autor in seinen Texten beleuchtet. Wie der Titel verrät, sind es hauptsächlich Naturphänomene, die er in den Versen beschreibt, aber auch gesellige Ereignisse und persönliche Erlebnisse, die er in den Reimen für die Erinnerung festhält. Wir finden darin Porträts von Vögeln, Rosengedichte, Reflexionen über Wetter und Klima, festliche Anlässe, erfreuliche, aber auch kritisch gestimmte Reisebilder, musikalische Eindrücke.
Und selbstverständlich läßt sich an dieser umfangreichen Sammlung auch sehr gut studieren, welche Schreib- oder Dichtungsart Dähling bevorzugt. Dazu möchte ich zwei Bemerkungen machen. Wie anderswo ausführlich dargelegt, kann man in der heutigen Lyrik zwei Gedichttypen unterscheiden: das regelkonforme Gedicht in Versen und Reimen und das regellose Gedicht, das sich in stilistischer Hinsicht der Prosa, meistens der Alltagsrede nähert und als typisch poetische Merkmale meist nur noch eine rhythmische Gliederung, gelegentlich auch eine prägnante Metaphorik bewahrt hat (cf. J.Q., Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit, 2017, 63ff.). Dabei habe ich auch die Variante des metrischen, gereimten Gedichts erwähnt, das stilistisch die Ebene der Umgangssprache bevorzugt. Genau dies ist der Fall Dählings, dessen Rede in den Versen immer nahe an der heute üblichen Ausdrucksweise bleibt und den gehobenen Stil gewöhnlich vermeidet.
Zweitens weisen diese Texte eine gewisse Leichtigkeit und Unbekümmertheit des Reimens auf, die man nur erstaunlich nennen kann. Es sieht so aus, als äußere sich der Autor ohne Bedenken so, wie es ihm einfällt, ohne sich durch irgendwelche Rücksichten auf die überwältigende Tradition der großen Dichtung beirren zu lassen. In der Tat sind mir keine Wendungen oder Wortfolgen aufgefallen, die man als bewußt intendierte Anspielungen auf andere Gedichte betrachten könnte. Gewiß gibt es, wie ich gleich erklären werde, Analogien zu bekannten Texten, aber keine explizit vorgenommene intertextuelle Verweise – was ein wichtiger Unterschied zwischen logisch-semantischen und kausalen Beziehungen ist.
Diese literarische Unbeschwertheit und die Nähe zum Umgangsdeutsch vermitteln bei manchen Gedichten den kaum zu widerlegenden Eindruck, daß sie gereimte Feuilletons sind, die sich wesentlich der Freude des Autors an der metrischen Form verdanken. Aus der beachtlichen Fülle der Gedichte ragen aber einige Verse heraus, die unsere ganze Aufmerksamkeit verdienen.
Wiederum bestätigt es sich, daß zu den gelungensten Gedichten Dählings jene gehören, die sich der genauen Beobachtung natürlicher Phänomene verdanken. In erster Linie möchte ich das Gedicht „Sprühregen“ nennen, das in präziser Deskription das Phänomen vor Augen stellt und damit die klimatische Stimmung sehr wirkungsvoll und treffend evoziert:

Sprühregen rieselt unentwegt
auf alle Büsche, Eschen, Erlen.
Selbst noch das kleinste Zweiglein trägt
ein Band aus lauter Wasserperlen.

Für einen flüchtigen Moment
glänzt jedes Tröpfchen hell kristallen,
blitzt auf, empfiehlt sich dann dezent
und läßt sich still zu Boden fallen.

Bemerkenswert ist auch das Poem über den Maulwurf (Talpa), das zunächst die ausgeprägten und die reduzierten Sinne des Tieres schildert, um im Stil von Wilhelm Busch, was aber doch kaum direkt beabsichtigt war, witzig zu resümieren:

Er streitet offen für sein Recht.
Die Talpa sind seit alten Zeiten
ein unterirdisches Geschlecht
mit mancherlei Besonderheiten.

Hier wäre auch das Scherzgedicht über den Buchfink zu nennen, das mit den sprichwortähnlichen Versen schließt:

Denn, wenn man Junge füttern muß,
ist ohnehin mit Trällern Schluß.

Eine weitere Eigenart des Naturempfindens, wie es in dieser Sammlung zum Ausdruck kommt, verweist auf eine ähnliche Einschätzung bei Gottfried Benn – ich meine die Vorliebe für die Farbe Blau, die für beide Autoren einen höchst positiven Gefühlswert hat. Für Dähling besteht ein Vorzug des Winters gerade in dem tiefen Blau seines Himmels und er hat dieser von ihm so sehr geschätzten Farbe ein ganzes Gedicht gewidmet, in dem er nichts geringeres als das ganze Programm seines poetischen Naturbildes vorstellt und rechtfertigt: „Ich hole das Blaue vom Himmel herunter“. Es gehört zu den besten Texten des Bandes, wohl auch zu den lesenswerten Gedichten von heute; ich glaube aber nicht, daß der Autor sich an dem analogen Motiv bei Benn orientiert hat. Man findet es etwa in der Schlußstrophe von „Schöner Abend“:

So auch in mir, - den immer graute
früh her, verschlimmert Jahr um Jahr
entstand ein Sein, das etwas blaute -
und eine Stunde ohne Trauer war.
(cf. J.Q., l.c. 44).

In dem Schlußgedicht der Sammlung, das von der Ansicht handelt, die das Leben als Tanz betrachtet, findet sich der Vers: „Von innen her erstrahlt ein Glanz.“ Die Worte erinnern natürlich an das berühmte, mißverständliche und oft auch mißverstandene Diktum von Rilke: „Armut ist ein großer Glanz von innen.“ Wiederum enthält der Text aber keine expliziten Signale, daß diese auffällige Analogie beabsichtigt wäre und deshalb zum Sinn des Gedichtes gehörte.
In dem Gedicht über das Blau greift Dähling variierend auf eine bekannte Redensart zurück, um daran anknüpfend bestimmte bildliche Vorstellungen samt den entsprechenden Reflexionen zu entwickeln. Das gleiche Verfahren wendet er in einem seiner Rosengedichte an, wo er den Ausdruck „etwas durch die Blume (die Rose) sagen“ in charakteristischen Hinsichten ausdeutet.
Bezeichnend für des Autors Sicht der Natur ist auch sein Empfinden, das die Farben mit Klängen verbindet, die synästhetische Einstellung, die visuelle und akustische Eindrücke kombiniert oder verschmilzt. Die Erscheinungen des Frühlings, das Erwachen und Hervorkommen der Pflanzen in ihrer Vielfalt beschreibt er metaphorisch als Symphonie und Melodie. Selbstverständlich läßt er es sich nicht entgehen, den akustischen Namen der Osterglocken wörtlich zu auszubuchstabieren: „Sie läuten fröhlich durch den Park“.
Daneben hat er auch einige Gedichte dem Lob der Musik gewidmet und das alles andere Interesse übersteigende „sinnliche Erleben“ beschworen, das ein Flötenkonzert von Vivaldi vermitteln kann. Nicht zu vergessen ist ein Preislied auf Sinn und lebensnotwendigen Zweck der Lieder: „Ich brauche Lieder, um sie festzuhalten, / die Freude, die mir oft so schnell entweicht …“
In jenem Büchlein über die Poesie heute habe ich die Jetztzeit als eine säkulare Epoche beschrieben, die den Sinn für Feste und Feiern fast ganz verloren hat. In Dählings Gedicht-Sammlung findet man wohl noch manche Erinnerung an traditionelle Feste. Doch wird man kaum sagen können, daß diese Reminiszenzen meine Beobachtung grundsätzlich und im einzelnen widerlegen, beziehen sie sich doch auf die gegenwärtige Festpraxis, die recht bescheidene Veranstaltungen bereithält und ein recht bescheidenes Vergnügen vermittelt: Straßenfeste, Weihnachtsmärkte. Das einzige Gedicht auf ein religiöses Hochfest, Weihnachten, ist formal allzu konventionell angelegt und ausgeführt, als daß es dem Sinn des Anlasses in den Grenzen des überhaupt Möglichen wirklich gerecht werden könnte.
Was die Gedichte über existentielle Themen angeht, so wäre vor allem der nachdenklich stimmende Text zu nennen, der davon handelt, daß uns das Leben als Labyrinth vorkommt. Der Sinn der Verse ist wohl, daß wir erst dann frei werden, wenn wir diese Vorstellung als eine Zwangsvorstellung durchschauen und uns auf das „Innere“, die „Mitte“ besinnen. Symptomatisch aber ist wiederum, daß offen bleibt, was damit eigentlich gemeint ist.
Insgesamt aber kann man wohl mit guten Gründen erklären, daß es Dähling in diesen Texten darauf ankommt, einen zuversichtlichen Blick auf den Lauf der Welt zu werfen. Er versucht, allem Geschehen das Beste abzugewinnen, ohne die offensichtlichen Schattenseiten des Erlebens zu unterschlagen.

J.Q. — 8. April 2018

©J.Quack



Josef Quack

Feuilletons in Versen


Über: Arno Dähling, Kultursplitter. Poetische Skizzen. Edition Anthrazit im Deutschen Lyrik Verlag. Aachen 2020.

Der erste Eindruck dieser Gedichte gleicht dem Eindruck, den die früheren Texte Dählings hinterließen. Auch diese Texte weisen eine erstaunliche Fertigkeit im Reimen auf, etwas durchaus Seltenes in der gegenwärtigen Szene der deutschen Lyrik, eine Gewandtheit, eine Geschmeidigkeit im assimilierenden Wortgebrauch, der von ferne an Heine oder Wilhelm Busch erinnert. Und wie die früheren Verse Dählings sind auch die neuen Gedichte von einer heiteren, unbeschwerten Stimmung durchherrscht, die von einer menschenfreundlichen, weltzugewandten Geistesart des Autors zeugt.

Wenn man die Spannweite der neueren deutschen Dichtung zwischen den beiden Polen der schwarzen Melancholie eines Gottfried Benn und dem letzthinnigen Optimismus eines Werner Bergengruen betrachtet, muß man Dählings poetische Äußerungen durchaus in die Nähe Bergengruens einordnen, was keineswegs besagt, daß er sans phrase einer „heilen Welt“ das Wort reden, geschweige denn, daß er diese mißverständlichste Parole übernehmen würde. Davor bewahrt ihn eine gewisse Nüchternheit, die sich unter anderem auch darin zeigt, daß nur wenige seiner Gedichte eine unverkennbare liedhafte Qualität aufweisen.

Meines Erachtens besteht Dählings Leistung als Lyriker darin, daß er mit seinen Texten den sprechenden Nachweis geliefert hat, daß es auch im technisch-wissenschaftlichen Zeitalter möglich ist, Naturgedichte zu schreiben. Er widerlegt damit auf seine Art die weitverbreitete, aber grundfalsche berühmte soziologische These von der Entzauberung der Welt durch die Wissenschaften. Wie vor allem Hoimar von Ditfuhrt betonte, haben die Naturwissenschaften im Gegenteil gerade zahllose, ungeahnte, neue Wunder der Natur entdeckt.

Dähling schrieb Verse, die ad oculos zeigten, daß die Natur durch unser Wissen über sie, das wir der Forschung verdanken, keineswegs ihren poetischen Charme verloren hat. Im neuen Gedichtband hält ein Text sachlich den wissenschaftlichen Erfolg fest, daß man die in der Natur geltenden Regeln entdeckt hat: „Am Ursprung jeglicher Kultur / lag die Beherrschung der Natur“.

Damit ist der Themenkreis des neuen Bändchens angezeigt. Während Dähling zwei frühere Arbeiten Naturphänomenen gewidmet hatte, bringt er nun Kulturphänomene zur Sprache und zwar hauptsächlich zwei Themen: Reisebilder oder Impressionen fremder Orte und Gedanken über Stil- und Kulturepochen, Kunstwerke. Im Einleitungsgedicht, das wohl auch programmatisch gemeint ist, da es einen ausgesprochen moralischen Sinn vermittelt, beschreibt er das Rheinland mit dem großen Strom als Kulturlandschaft, in der Fortschritt sich mit Tradition paart, und folgert:

Wo derart viele Menschen leben,
in großen Städten dicht an dicht,
muss es verbürgte Werte geben,
sind Toleranz und Frieden Pflicht.

Für heil‘ge Wahrheit, als ihr Zeuge,
steht über Köln der hohe Dom.
Dass sich der Mensch vor Gott nur beuge,
ansonsten frei sei - wie der Strom.

Die Reisefeuilletons handeln nicht von exotischen Gegenden, sondern von Münster, Barcelona, London, Berlin, von allbekannten Orten, von denen Alltagsbeobachtungen, keine Sensationen, sondern nachdenklich stimmende Momente mitgeteilt werden. Anspruchsvoller sind dagegen die Gedichte über die Kunstepochen: Gotik, Renaissance, Barock und Bauhaus. In diesen Texten trifft Dähling durchaus den spezifischen Geist und die Kunstabsicht der Meister der Epochen. So etwa über den Barock:

Man stellt dem tristen Jammertal,
den hellen Himmel gegenüber,
befördert dessen Lichteinfall,
je raffierter, desto lieber.

Oder über das Bauhaus:

Alltagstauglichkeit erschien,
für das Kunsthandwerk zumal,
wie ein Qualitätsgewinn.
Das Design war funktional.

Zu Dählings Kultursplittern wäre prinzipiell zu sagen, daß er sich in seinen Bildern, Vergegenwärtigungen und Reflexionen jede Kultur- und jede Fortschrittskritik versagt, und man kann sich fragen, ob nicht eine Prise Kritik als Würze den Texten gutgetan hätte. Außerdem, so klug und anregend diese kulturhistorischen Verse in thematischer Hinsicht auch sein mögen, insgesamt scheint mir der ästhetische Wert dieser Texte doch nicht in ihrem gedanklichen Gehalt, der keineswegs zu unterschätzen ist, sondern in ihrer sprachlichen Form zu liegen, was in erster Linie heißt, in ihrer Reimkunst, die durchaus apart und zweifellos beachtlich ist.

Zunächst fällt auf, daß Dähling recht unbekümmert viele Fremdwörter gebraucht, was in der Poesie früherer Zeiten streng verpönt war, und zwar deshalb, weil viele, meist aus dem Französischen, stammende Fremdwörter nichtssagende, banale Endsilben haben und ausgefallene Wörter allzu preziös wirkten. Benn hat dann den skandalisierenden, schockierenden Reiz gänzlich unbekannter Wörter entdeckt.

Daß Dähling keine Skrupel hat, wie es gerade kommt, Fremdwörter zu gebrauchen, hängt gewiß damit zusammen, daß er sich in seiner poetischen Rede an dem Niveau der Umgangssprache orientiert und den hohen Ton, die gebildete schriftsprachliche Rede meist ganz vermeidet. Es ist ihm aber gelungen, einige aus Fremdwörtern bestehende Reimpaare zu entdecken, die sich hören lassen können. So etwa: Nuancen – Chancen, oder die sinnige Verbindung von Stress und Tristesse.

Bewundernswert ist auch, wie in der Schlußstrophe eines Gedichts über Grabplatten von historisch bedeutenden Personen der Kontrast der Zeiten in den Reimwörtern zur Geltung kommt:

Abgegrenzt durch hohe Mauern
von der Welt der schnellen Moden
ruhen in geweihtem Boden
die im Nachruhm überdauern.

„Moden“ steht für die rasche Vergänglichkeit, während „Boden“ lange Dauer und Beständigkeit symbolisiert.

Ein zweiter ästhetischer Vorzug dieser Texte in formaler Hinsicht besteht darin, daß Dähling einige unreine Reime fand, die im Kontext deutlich signifikanter und bedeutungsvoller sind, als es makellose reine Reime wären. Die ideale Funktion der Reime besteht bekanntlich darin, daß die Wörter nicht nur einen Gleichklang der Silben enthalten, sondern auch eine Verbindung der beiden Gedanken herstellen oder aufdecken sollen. Nun hat Karl Kraus herausgefunden und an prominenten Beispielen demonstriert, daß reine Reime gelegentlich allzu glatt, wenn nicht sogar trivial wirken, während ein leichtes sprachliches Hindernis, wie auch bei unreinen Reimen, den subtilsten Reiz bewirken kann. (cf. J.Q., Über die Rückschritte der Poesie dieser Zeit, S.72f.).

Ebendieses Stilmittel verwendet Dähling gelegentlich mit einigem Geschick in seinen neuen Gedichten. Um ein einfachstes Beispiel zu zitieren: „Allerdings vermögen unsre Straßen / diesen Pulk an Lastern kaum zu fassen“. Da „Straßen“ ein langes A, „fassen“ ein kurzes A enthält, liegt ein unreiner Reim vor. Aber „Straßen“ vermittelt an sich die Anschauung einer gewissen Weite, die dann durch das kurze „fassen“ eingeengt wird. — Eine kaum merkliche Divergenz liegt auch in dem oben zitierten Reim: "Mauern" vs. "überdauern" vor.

Recht amüsant ist das ganz und gar auf die Reime abgestellte Gedicht "Pointen" über die Mainzer Fasnacht, drei vierzeilige Strophen, die jeweils einen Reim haben. Es schließt mit gleichauslautenden Worten, die die feine Schärfe im Ton nachahmen:

Durch die Kunst, fein zuzuspitzen,
bis die Pointen richtig sitzen
bringt man hier mit flotten Witzen
die Politiker zum Schwitzen.

Sprachlich am reizvollsten und am kunstvollsten aufgebaut sind jedoch die dreizeiligen Strophen des „Glockenspiels“, die jeweils auf drei gleichlautende Silben enden, am schönsten und sinnvollsten in der ersten Strophe mit drei Wörtern, die eine Kombination von Fülle, Ideal und leichtem Glück auf einen Nenner bringen:

Verlange ich zu viel?
Mein ausdrücklichstes Ziel:
Ich will ein Glockenspiel.

Ein Text, der noch am ehesten dem Tonfall eines Liedes nahekommt und derart eindringlich ist, daß man sogar den Anglizismus „Sinn machen“ unwidersprochen in Kauf nimmt.

J.Q. — 1. Okt. 2020

©J.Quack



Josef Quack

Anläßlich eines Weihnachtsgedichtes

Zu Gast in Bethlehem

Wer heute Israel bereist,
erreicht mit einem Bus bequem
das alte Städtchen Bethlehem,
das auf arabisch Baythlam heißt.

In dem Hotel, das man bezieht,
ist jede Kleinigkeit dem Gast
und seinen Wünschen angepaßt.
Nichts, das die Leitung übersieht.

Ein Fremdenführer steht parat,
spricht Deutsch und Englisch fast perfekt,
politisch hält er sich bedeckt,
zeigt den Touristen seine Stadt.

Er kennt sich aus, bis ins Detail.
Zu jener Grotte mit dem Stern
erklärt er dem Besucher gern,
daß Jesus hier geboren sei.

Nun geht man auf das Hirtenfeld
Diverse Schafe weiden dort.
Ein beinah unberührter Ort,
noch nicht von Menschenhand entstellt.

Dann kommt man zum Hotel zurück,
nimmt einen Drink und macht sich frisch.
Anschließend setzt man sich zu Tisch
und zögert einen Augenblick:

Da war doch was! … In Bethlehem?
Zwei Leute … Fremde … kein Quartier …
man schickt sie fort … von Tür zu Tür …
ein Stall … nicht eben angenehm …
Arno Dähling (Wunder über Wunder. München 2007)

Das Gedicht berichtet von der Reise eines Touristen nach Israel, es berichtet nicht von der Fahrt eines Pilgers ins Heilige Land. Diese entscheidende Differenz ist wohl zu beachten, es vermeidet damit die ganze Problematik der heutigen Pilgerschaft, die ja meist auch nichts anderes ist als religiös verbrämter Tourismus, ein modisches Geschäft. Insofern ist das Gedicht geradezu entwaffnend ehrlich. Dies ist sein erster Vorzug.

Es erzählt in salopper, journalistischer Manier von einer Reise nach Bethlehem. Die Reime sind ungezwungen, die Rede ist dem mündlichen Deutsch angepaßt, unbekümmert um Sprachreinheit, eingedeutschte Fremdwörter verwendend. Ein Bericht im Parlandoton, das Erlebnis eines routinierten Reisenden, eines Jedermann unserer Tage, höflich und ein bißchen oberflächlich erzählt.

Die Szene ist ein Hotel mit modernem Komfort, Stadt und Umgebung werden von einem kundige Fremdenführer erklärt, die Geburtsgrotte Jesu erscheint als Sehenswürdigkeit, ein Hirtenfeld erweckt keine historische Reminiszenz, die biblische Herbergssuche ist eine verblichene Legende, die auf höfliches Desinteresse stößt.

Beschrieben wird das Reiseerlebnis eines zweifellos beispielhaften Zeitgenossen, für den das genauere Wissen um die Anfänge des Christentums nicht mehr zur Allgemeinbildung gehört, ganz davon abgesehen, daß er religiös indifferent ist und sich dafür auch nicht besonders interessiert. Er kommt nicht mal mehr auf den Gedanken zu fragen, was denn uns das angehen sollte, was damals geschehen ist.

Soweit der offensichtliche und der unausgesprochene Sinn der Verse. Sie zeigen die ungeheure Ferne des damaligen Ereignisses auf, den kaum zu überbrückenden historischen Abstand zwischen damals und heute, die weite kulturelle Kluft zwischen dem armseligen Ursprung einer Religion, die jahrhundertelang die Geisteswelt zutiefst prägte, und dem blassen Gerücht, als das sie den religiösen Analphabeten heute erscheint.

Soweit der kulturkritische Hintergrund des Gedichts, der weniger ausgedrückt als vorausgesetzt ist, wenn die Verse überhaupt einen Sinn haben sollen. Man versteht sie nicht, wenn man nicht sieht, daß sie auf einer unbestreitbaren Erfahrung beruhen: die Erfahrung einer fast vollständigen Fremdheit, die wir gegenüber der damaligen Welt empfinden, der Epoche des Augustus und der Geburt einer neuen Religion. Diese Erfahrung bestimmt das Verhalten des im Gedicht beschriebenen säkularen Zeitgenossen. Daß er aber diese Erfahrung macht, kann man ihm gewiß nicht vorwerfen.

Man sieht, das Gedicht hat ein kleines Rudel naheliegender Fragen aufgescheucht, darunter ist die weitere, die elementare Frage, wie es möglich wäre, den übergroßen zeitlichen Abstand zwischen der Gegenwart und dem Ursprung des Christentums zu überwinden. Es war bekanntlich die letzte und radikalste Frage Kierkegaards und er kam zu dem Schluß, daß die kulturell angepaßte, bequeme Christenheit seiner Zeit eine verlogene Pseudoreligion sei, die mit dem wahren Sinn des Urchristentums nichts mehr zu tun habe.

Von heute aus betrachtet, müßte man dem hinzufügen, daß das Christentum in Gesellschaft und Öffentlichkeit überhaupt keine Rolle mehr spielt, nicht mal mehr eine kulturelle. Wenn seine Feste überhaupt noch begangen werden, dann nur noch als sinnleere Konvention oder Geschäft.

Zum Thema gehört dann auch die spezifische Frage, die sich bei der Lektüre der Evangelien stellt, wie wir hier den Abstand zwischen historischem Geschehen und unserer Zeit überbrücken können.

Joseph Ratzinger hat sich diese Frage in seiner großen Jesus-Monographie offen, ohne Ausflüchte zu suchen oder zu dulden, vorgelegt, und er kommt zu dem Ergebnis, daß die historische Methode der Interpretation allenfalls aufklären kann, was in der Vergangenheit geschehen ist, wie und wann die Texte entstanden sind u.ä. Sie kann aber nicht ihre religiöse oder existentielle Bedeutung für unsere Gegenwart nachweisen, weil dies eine Glaubensentscheidung voraussetzt.

Um über unserer Situation aber nicht die Hauptsache zu vergessen, die christliche Botschaft war zu ihrer Zeit derart neu, daß neue Wörter für ihre Ideen gefunden werden mußten, was Henri de Lubac in Credo (dt.1975) schön beschrieben hat (cf. J.Q. Zur christlichen Literatur im 20. Jahrhundert, S.90ff.). Das heißt natürlich nichts anderes, als daß der christliche Glaube auch für die antiken Menschen der Zeitenwende durchaus fremd war. Vom Evangelium trennt uns also ein doppelter Abstand, die Zeitdifferenz und der Gegensatz von Christentum und Heidentum. Von dieser Fremdheit handelt ein vor Jahren erschienenes Buch von Karl Prümm mit dem lebensphilosophischen Titel: Das Christentum als Neuheitserlebnis, übrigens ein denkbarer Ansatz für die lange angekündigte neue Evangelisation, von der aber weit und breit nichts zu spüren ist.

Jene Verse aber deuten leise, in bescheidenem Tone an, wie nötig es wäre, die immer aktuelle Bedeutung und die geschichtliche Herkunft von Weihnachten für die Zeitgenossen zu erhellen und zu erklären, jenseits sentimentaler Erbaulichkeit und des alle Jahre wiederkehrenden Weihnachtsrummels. In dieser Situation tut es wohl, auch mal eine ehrliche Stimme zu hören, sagt doch schon Kierkegaard: „Was ich will? Ganz einfach, ich will Redlichkeit.“ (cf. J.Q. Diskurs der Redlichkeit).

J.Q. — 5. Dez. 2020

©J.Quack



Josef Quack

Besprechung


Arno Dähling, Lust am Leben. Poetisches. Edition Anthrazit im Deutschen Lyrik Verlag. Aachen 2021.

Diese Verse stellen den Leser vor zwei Probleme, die sich folgendermaßen beschreiben lassen. Das erste Problem besteht darin, daß der Text literarische Assoziationen enthält, die offensichtlich nicht intendiert sind — es handelt sich nicht um literarische Anspielungen im strengen Sinne. Das zweite Problem besteht darin, daß einige Gedichte zu bescheidendster Alltagslyrik tendieren.

Es beginnt mit dem Titel der Sammlung, der sich wie ein wörtliches Echo des berühmten Ausspruches Ulrich von Huttens (1488-1523) liest: „O Jahrhundert! O Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben.“ Ein überschwenglicher Ausdruck der Diesseitsfreude, die Bekundung eines radikal neuen Zeitbewußtseins, der Geburt des historischen Sinnes, alles in allem, die Parole des deutschen Humanismus, der den Beginn der Neuzeit markiert.

Und gewiß erinnern jene Worte auch an das Tanzlied des Zarathustra von Nietzsche, das ein Gespräch mit dem personifizierten Leben beendet und mit den Worten schließt: „Doch alle Lust will Ewigkeit /will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Wie aber lautet das Titelgedicht bei Dähling?

Die Erde legt ihr schönstes Kleid
aus frischen, bunten Farben an.
Wir fühlen uns in dieser Zeit
voll Erwartung, voll Elan.

Die Lust am Leben lockt und drängt.
Die warme Sonne lädt uns ein.
Wir werfen ab, was uns beengt,
möchten ungebunden sein.

Die ganze Schöpfung tanzt bereits
beschwingt nach einem neuen Lied.
Sie ruht nicht, bis sie ihrerseits
auch uns Menschen tanzen sieht.

Ein schlichtes Frühlingslied, das die belebende Wirkung der Jahreszeit, die Hoffnung und Erwartung der erwachenden Natur besingt. Ein doch recht leises Lob der Zuversicht, die verhaltene Wiedergabe einer optimistischen Einstellung zum Dasein, ein Wort der stillen Freude am menschlichen, natürlichen Dasein, mit der auffallenden Note, daß nicht explizit von der Natur, sondern von der Schöpfung die Rede ist. Kein leidenschaftliches Pathos, kein Überschwang der Stimmung, kein Wort über den ausschweifenden, grenzenlosen Drang der Lust.

Was das Motiv des Tanzes angeht, so bezeichnet es hier die erregte Stimmung des frühlingshaften Neuanfangs. Diesem Motiv hat Dähling ein eigenes Gedicht gewidmet. Es ist wohl in poetischer Hinsicht, was die Reimpaare, den beschwingten Rhythmus, die Wortwahl, den ideellen Gehalt angeht, der gelungenste Text der kleinen Sammlung.

Tanzlied

Das Leben spielt in Dur und Moll,
in tausendfachen Melodien,
scheint seine Kraft geheimnisvoll
aus heil‘ger Quelle zu beziehen.

Hier klingt es sanft, dort laut und schrill,
erhebt sich, dauert an, sinkt nieder,
bewegt sich, kreist, steht niemals still,
erfindet immer neue Lieder.

Von innen her erstrahlt ein Glanz.
In allem zeitlichen Geschehen
liegt Rhythmus, liegt Musik, liegt Tanz,
liegt Tag und Traum und Neuerstehen.

Das Motiv des Tanzes aber erinnert an den unvergeßlichen Anfang des Titan Jean Pauls, eine Sequenz, die erstaunlicherweise kein Gedicht, sondern ein Passus in Prosa ist, die prägnanteste sprachliche Gestaltung dessen, was mit dem Wort gemeint ist: „Und nun lasset uns sämtlich ins Buch hineintanzen, in diesen Freiball der Welt — ich als Vortänzer voraus und dann die Leser als Nachhopstänzer, so daß wir — angesungen von der Singschule der Musen — angespielt von der Gitarre des Phöbus von oben — munter tanzen von tomus zu tomus — von Zykel zu Zykel — von einer Digression zur andern — von einem Gedankenstrich zum andern — bis entweder das Werk ein Ende hat oder der Werkmeister oder jeder! —“

Das Gedicht aber enthält noch einen weiteren intertextuellen Verweis. Der Vers, „von innen her erstrahlt ein Glanz“, liest sich wie ein Zitat des bekannten Wortes von Rilke, „die Armut ist ein großer Glanz von innen“.

Es ist offensichtlich, daß diese Assoziationen in den beiden Gedichten keine vom Autor beabsichtigten literarischen Anspielungen sind. Es sind reine Analogien, d.h. logisch-semantische Beziehungen, nicht absichtlich hergestellte intertextuelle Verweise, keine kausalen Beziehungen zwischen den eigenen und den fremden Texten. Damit folge ich übrigens einer Differenzierung Karl Poppers.

Genau darin aber besteht das erste Problem dieser Gedichte. Karl Kraus nämlich behauptet über das Sprachbewußtsein des Dichters und seine sprachliche Gestaltung eines Textes: „Der Schriftsteller muß alle Gedankengänge kennen, die sein Wort eröffnen könnte. Er muß wissen, was mit seinem Wort geschieht. Je mehr Beziehungen dieses eingeht, um so größer die Kunst; aber es darf nicht Beziehungen eingehen, die dem Künstler verborgen bleiben.“

Kraus meint zunächst, daß der Dichter alle möglichen Assoziationen kennen müsse, die die von ihm gewählten Wörter implizieren. Der Autor müsse alle möglichen Bedeutungsvarianten der Wörter kennen, die etwa in einem Wörterbuch verzeichnet sind, und er müsse seine Worte so wählen, daß sie keine unerwünschten, sinnwidrigen Assoziationen auslösen. Dies gilt dann aber auch im Hinblick auf die Beziehungen zur literarischen Tradition, zu der klassischen Poesie. Auch dazu sollte ein Text keine unbeabsichtigte Anspielung enthalten.

Voraussetzung dieses Gedankens aber ist, daß er zu einer Zeit geäußert wurde, als die klassische oder die literarische Bildung des Lesers noch eine Selbstverständlichkeit war.

Daraus folgt aber, daß ein Text, der literarische Verweise enthält, die der Autor nicht bemerkt hat, ein mißlungener, höchst irritierender Text ist, und es ergibt sich die Frage, ob diese Alternative eine vollständige Disjunktion ist oder ob derartige Texte, trotz der normativen These von Kraus, durchaus akzeptabel sein könnten.

In unserem Fall könnte man zunächst sagen, daß wir in einer Zeit des Bildungsschwundes lebten, in der wohl die wenigsten Leser die erwähnten Verweise auf andere Dichtungen überhaupt erkennen würden. Doch halte ich diesen Ausweg für die schwächste Lösung des Problems, weil er damit rechnet, daß der heutige Durchschnittsleser eben ungebildet ist. Die gegenwärtige Situation des Bildungsschwundes habe ich näher in den Rückschritten der Poesie dieser Zeit (S.53ff.) beschrieben.

Besser wäre die Alternative, daß die fraglichen Texte als solche durch ihre Sprachgestalt und ihren Gedankenausdruck überzeugten und zwar trotz der unbeabsichtigten Anspielungen. D.h. sie müßten an sich so geglückt sein, daß man die Assoziationen unbeachtet läßt.

So kann man etwa zugunsten der Verse über die Lust am Leben vorbringen, daß sie durch den Mangel an jedem Pathos eine Stimmungslage der menschlichen Existenz in Worte fassen, die sich klar von der gehobenen Rhetorik Huttens und Nietzsches abhebt. Dähling verwendet das genus humile der Rhetorik, die schmucklose, bescheidene Gattung der Rede, Hutten und Nietzsche bedienen sich aber des genus grandiloquum, was sowohl den feierlichen wie den großsprecherischen Stil bedeuten kann. Man wird aber wohl kaum sagen können, daß durch die Stildifferenz die Erinnerung an Hutten und Nietzsche ausgelöscht würde.

Im Felde der gegenwärtigen Poesie bedeutet das genus humile aber nichts anderes als die Tendenz zur Prosa des Alltags, den Verzicht auf die überlieferten Ausdrucksformen der gebundenen Rede; kurz gesagt, Texte im ungebundenen Stil laufen Gefahr, zur Alltagslyrik unseligen Angedenkens zu mutieren, zur Reproduktion von Banalität. Worüber dann nichts weiter zu sagen wäre. Das aber ist das zweite Problem, das diese Verse aufwerfen.

Man kann nicht verschweigen, daß Dähling in seinen Texten dieser Gefahr ganz entgangen wäre, so wenn er die kleinen Freuden des Alltag notiert oder bedichtet. Von der gewöhnlichen Alltagsrede aber unterscheiden sich seine Gedichte immerhin noch dadurch, daß sie gereimte Texte sind. Auch kann Dähling in diesem Fach doch Überraschendes vorlegen.

Im günstigsten Fall aber verweisen diese Texte auf eine Dimension, die die gewöhnliche Sicht der Dinge beträchtlich übersteigt. So zum Beispiel die Verse: „Die Welt wird schöner, tiefer, weiter, / seit ich vom Jenseits weiß.“ Und die Wendung von den ewig blühenden Blumen spricht ja auch einen Gedanken aus, der die gewöhnliche Zeit transzendiert.

Freilich darf man diese Metapher für das ewige Leben nicht ganz wörtlich nehmen, da es für das Blühen in der Natur wesentlich ist, daß es vergeht und eine Frucht hervorbringt. Außerdem läßt sich die Metapher nicht gut mit dem Titelgedicht vereinbaren, das die Freude am Frühlingserwachen beschreibt, das ja gerade den Wechsel der Jahreszeiten voraussetzt. Ein Wechsel der Dinge aber kann oft erwünscht und erfreulich sein, wie das Sprichwort sagt: varietas delectat (Vielfalt erfreut).

Zu dieser Sammlung wäre also zu sagen, daß sie Verse enthält, die nachdenklich stimmen, und andere Verse, die kritisch stimmen.

J.Q. — 13. Mai 2021

©J.Quack


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