Das ungerechte Urteil von Hans-Peter Schwarz in seiner Darstellung des 20. Jahrhunderts über Henry Kissinger (cf. , Zum Problem der biographischen Geschichtsschreibung) hat mich veranlaßt, Kissingers Memoiren nachzulesen, um zu sehen, wie er selbst seine politische Vita beurteilt. Ich habe die beiden Bände der Memoiren berücksichtigt, die die Jahre 1968–1973 und 1973-1974 behandeln, die Zeitspanne, in der Kissinger Sicherheitsberater und Außenminister unter Richard Nixon war.
Der Verleger Wolf Jobst Siedler hat einmal darauf hingewiesen, daß ein Politiker, der seine Erinnerungen schreiben will, den richtigen Zeitpunkt dafür nicht versäumen dürfe — er darf damit nicht zu lange warten, sonst verliert sein Buch den persönlichen Charakter, er kann sich nicht mehr auf sein Gedächtnis verlassen, er wird eine Geschichte schreiben, die dokumentarisch belegt sein mag; sonst aber wird sie trocken und langweilig sein.
Nun, Kissinger hat offensichtlich den richtigen Zeitpunkt für seine Memoiren gewählt — er schrieb sie unmittelbar nach seinem Abschied aus der aktiven Politik, als sein Gedächtnis noch frisch und lebendig war und seine Mitstreiter, Konkurrenten oder Gegner seine Darstellung noch überprüfen konnten. Der erste Band ist 1979 erschienen, der zweite Band 1982. Zusammen umfassen sie über dreitausend Seiten, sie sind überreich mit Dokumenten, mit Nachschriften von Reden, Memoranden, Protokollen und Verträgen angefüllt und dennoch lesbar geblieben, einfach deshalb, weil er bedeutende politische Ereignisse und Entscheidungen intelligent beschrieben hat.
Dabei verfolgt Kissinger zwei Ziele: Er will seine politischen Aktionen rechtfertigen, d.h. seine Memoiren sind nichts anderes als eine mehrbändige Apologia pro vita sua politica, eine wortreiche Verteidigung seiner diplomatischen Handlungen und Verhandlungen. Zweitens schreibt er dies alles so genau wie möglich auf, weil er, aktiver Politiker, Historiker und Politologe in einer Person, den nachfolgenden Akteuren auf der politischen Bühne seines Landes eine Lehre erteilen und auch die künftige Politik Amerikas beeinflussen will. Es läßt sich kaum bezweifeln, daß er damit auch in bestimmter Hinsicht Erfolg hatte. Andererseits ist ersichtlich, daß viele außenpolitische Fehler Amerikas in den letzten Jahrzehnten bis heute sich dadurch erklären lassen, daß die verantwortlichen Regierungen seine Lehren nicht beachtet haben.
Kissingers politische und diplomatische Leistungen sind so bekannt, daß man sie nicht noch ausführlich beschreiben muß.
♦ Seine bedeutendste Leistung besteht fraglos darin, daß er zusammen mit Nixon politische Beziehungen zwischen seinem Land und der Volksrepublik China angebahnt und aufgenommen hat und zwar ohne dem langjährigen Verbündeten Taiwan den Schutz zu entziehen. Diese Neuorientierung Amerikas, die die Koordinaten der Weltpolitik bis heute bestimmt, die machtpolitischen Implikationen und Folgen hat er in seinem China-Buch noch einmal in größtem historischen Rahmen beschrieben und analysiert (cf. , Über Kissinger: China).
Übrigens hat er in diesem Band nicht erwähnt, daß Charles de Gaulle ihm in der China-Politik vorangegangen ist. In seinen Memoiren erwähnt er dagegen, daß de Gaulle die Amerikaner aufgefordert hat, Verbindung zu China zu suchen. Mehr noch, Kissinger bekennt, ein Verehrer de Gaulles zu sein, und tatsächlich orientiert er sich bei der Lösung des Vietnam-Problems an der Politik, die de Gaulle gegenüber Algerien betrieben hat.
♦ Zweitens kann er sich das Verdienst zuschreiben, in mühseligen Besprechungen mit Nord-Vietnam einen den Umständen entsprechend fairen Friedensvertrag ausgehandelt zu haben. Freilich konnte er nicht wissen, daß die Nord-Vietnamesen nicht daran dachten, die Bedingungen des Vertrags einzuhalten, und die amerikanische Regierung konnte dagegen militärisch nichts unternehmen, weil der Kongreß der Regierung die politische Befugnis für ein militärisches Eingreifen entzogen und die finanziellen Mittel für solche Aktionen gestrichen hatte.
Am Ende, 1975, stand die Eroberung Süd-Vietnams durch die Nord-Vietnamesen, ohne daß die Amerikaner etwas dagegen unternehmen konnten — weil der Kongreß und die Öffentlichkeit, die ein Jahrzehnt vorher die Intervention Kennedys und Johnsons in Vietnam unterstützt hatten, jetzt jede amerikanische Einflußnahme in Indochina ablehnten. Es ist so gekommen, wie es Graham Greene in seinem Stillen Amerikaner (1953) ausgesprochen hatte: „Zuerst unterstützen wir sie und dann lassen wir sie im Stich“ (cf. , Die Grenzen des Menschlichen).
Es ist evident, daß Kissinger seine ganze Beredsamkeit aufwendet, um seine Haltung in diesem Punkt zu rechtfertigen. Ich vermute, daß er seine Memoiren vor allem geschrieben hat, um seinen Standpunkt zu diesem Thema bis ins letzte zu klären und offenzulegen. In der Tat, stimmt es heute noch nachdenklich, wie es kommen konnte, daß Amerika in den fünfziger Jahren die Freiheit Südkoreas verteidigt und anfangs der siebziger Jahre Südvietnam im Stich gelassen hat, so daß der Tod der 56 OOO hier gefallenen amerikanischen Soldaten letzten Endes sinnlos war, ein absurdes Opfer, verursacht durch politische Dummheit und den Zynismus der öffentlichen Meinung.
♦ Eine weitere Großtat Kissingers waren die Waffenstillstandverhandlungen zwischen Ägypten, Syrien und Israel nach dem Oktoberkrieg 1973, der von arabischer Seite begonnen worden war, mühseligste diplomatische Besprechungen im Rahmen seiner Pendeldiplomatie zwischen Israel, Kairo, Damaskus, Riad und Amman. Im einzelnen ging es um Abkommen, die die Truppenentflechtung der beteiligten Armeen regelten. Diese Abkommen waren die unerläßliche Vorbedingung dafür, daß Präsident Carter 1978 in Camp David einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten zustande bringen konnte.
Kissinger konnte bei seinen Verhandlungen zudem in zwei heiklen Punkten einen beachtlichen Erfolg verbuchen: er konnte die Sowjetunion aus den aktuellen politischen Aktionen in Nahost raushalten und das gleiche gelang ihm auch mit der PLO – beides nicht gering zu schätzende Vorteile, die in der Folge dann von den späteren amerikanischen Regierungen wieder aufgegeben oder verspielt wurden — siehe das russische Engagement heute in Syrien.
♦ Die vierte unbestreitbare Leistung des Diplomaten Kissinger kam auf dem Feld der Ost-West-Politik zustande, die Entspannungsbemühungen, die schließlich zu SALT 1 (Strategic Arms Limitation Talks – Vertrag zur Begrenzung strategischer Waffen) führten, auch dies eine politische Entscheidung mit weitreichenden Folgen, die bis heute spürbar sind.
♦ Schließlich sollte man nicht vergessen, daß es Kissinger fertigbrachte, sich selbst — und damit bis zu einem gewissen Grade auch die amerikanische Außenpolitik — aus dem Strudel der Watergate-Affäre herauszuhalten, vielleicht seine bedeutendste diplomatische Leistung, und zwar ist ihm dies gelungen, ohne Nixon die Treue aufzukündigen, eine moralische Haltung, „unserer unauslöschlichen Achtung würdig“, wie Joseph Conrad sagen würde.
Das Buch gewährt Einblicke in die schwer zu überschauende und kaum beherrschbare Bürokratie einer modernen Regierung vom Format einer Weltmacht, es beschreibt die Prozedur endlos langer, kräfteraubender Sitzungen bei diplomatischen Begegnungen und es schildert den Konflikt zwischen einer Präsidialdemokratie und einer parlamentarischen Demokratie in Washington. Erstaunlich ist der große Einfluß, den damals die Leitartikler der führenden Zeitungen auf das politische Geschäft hatten, ein Phänomen, das heute verschwunden ist und das, von einer Handvoll Ausnahmen abgesehen in der Bundesrepublik unbekannt war.
Auch unterschied sich die amerikanische Anti-Vietnam-Bewegung der Studenten durch eine lebenswichtige Nuance von der deutschen oder europäischen 68er Bewegung. Die amerikanischen Studenten demonstrierten, weil sie nicht zum Kriegsdienst in Vietnam eingezogen werden wollten; die deutschen Studenten gingen aus Sympathie für den Kommunismus, von dem sie nur blauäugige Vorstellungen hatten, auf die Straße.
Bezeichnend ist, daß Kissinger einer Diskussion mit den Regierungsgegnern nicht aus dem Weg ging. Einen Mitarbeiter, der wegen der militärischen Aktionen gegen Kambodscha die Regierung verlassen wollte, bat er „zu überlegen, daß, wenn alle jungen Männer seiner Generation ihren Idealismus nur in Protesten artikulierten, niemand mehr übrigbleiben würde, um eine bessere Welt aufzubauen. Ich sagte ihm, er werde seinen Grundsätzen besser dienen können, wenn er innerhalb der Regierung für die Beendigung des Krieges arbeitete, als wenn er von außen eine Protesthaltung einnähme.“
Was die Ost-West-Beziehungen angeht, so spottet er als Realpolitiker über die amerikanischen und europäischen Politiker, die sich um atmosphärische Verbesserungen auf Gipfeltreffen bemühten, ohne sachlich relevante Ergebnisse zu erzielen. Unverständlich findet er den naiven Glauben, daß der „Friede von guten persönlichen Beziehungen“ zwischen den handelnden Staatsmännern abhänge.
Bemerkenswert ist sodann, daß er zweimal auf die Suez-Krise von 1956 zu sprechen kommt, als Israel, England und Frankreich gegen Ägypten losmarschierten und von Eisenhower ultimativ zurückgepfiffen wurden. Kissinger hebt hervor, daß die sowjetischen Führer erst dann Großbritannien und Frankreich mit einem Atomkrieg bedrohten, nachdem die USA ihr Veto gegen das Vorgehen der Briten und Franzosen eingelegt hatten. D.h. die sowjetische Drohung war eine leere Geste.
Deshalb aber fällt es besonders auf, daß Kissinger den zweiten und schwärzesten Tiefpunkt in den israelisch-amerikanischen Beziehungen nicht erwähnt, obwohl das Ereignis erst zwei Jahre vor seinem Amtsantritt zurücklag: die Affäre um das amerikanische Spionageschiff Liberty, das in dem von Israel begonnenen Sechs-Tage-Krieg vom Juni 1967 von israelischen Düsenjägern und Torpedobooten massiv beschossen wurde, wobei „24 amerikanische Militärangehörige getötet und 171 verletzt wurden und das Schiff fast versenkt wurde“. Die Israelis haben das Schiff höchstwahrscheinlich deshalb angegriffen, weil sie verhindern wollten, daß es den Funkverkehr in der nahen Wüste aufzeichnete, wo israelische Soldaten in diesen Tagen einige hundert ägyptische Kriegsgefangene kaltblütig ermordeten (James Bradford, NSA. 2001, 192ff.). Präsident Johnson, dem die US-Navy und die NSA darin folgten, vertuschte mit allen Kräften den blutigen Vorfall, weil er „seine Verbündeten nicht verärgern wollte“! (l.c. 229)
Es ist durchaus möglich, daß Kissinger über diese Affäre nicht genauer informiert war; daß er aber gar nichts davon gewußt haben sollte, ist schwer zu glauben. Daß er sie, soweit ich sehe, in seinen Memoiren nicht erwähnt, ist mehr als ein Schönheitsfehler seiner Darstellung.
Was Chile und den Sturz von Salvador Allende angeht, so ist die Darstellung dagegen durchaus glaubhaft, daß die Amerikaner zwar die Wahl Allendes hatten verhindern wollen, daß sie, d.h. die amerikanische Diplomatie, dagegen an seinem Sturz nicht mitgewirkt hatten.
Dieser Darstellung entspricht, daß Kissinger in einem anderen Fall eine Intervention der USA strikt verurteilt. Er schreibt, er sei 1963 entsetzt gewesen, „daß die USA am Sturz des südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem, der schließlich zu seiner Ermordung führte, direkt beteiligt waren“. Es war dies nicht nur ein Verbrechen, sondern bekanntlich einer der folgenschwersten Fehler der amerikanischen Politik in Vietnam, und Kennedy hatte ihn zu verantworten.
Bekanntlich ist die Mär bis heute weit verbreitet, Nixon habe 1960 wegen seines unvorteilhaften Aussehens im Fernsehen die Wahl gegen Kennedy verloren. Hier erfährt man, daß er aus rein politischen Gründen die Wahl nicht gewonnen hat: weil er in der Fernseh-Debatte sich in bezug auf Kuba zurückgehalten habe und weil Chruschtschow das Gipfeltreffen mit Eisenhower, dessen Vizepräsident Nixon war, kurz zuvor abgesagt hatte.
Schließlich sei noch eine Begegnung mit akademischen Politikberatern, ehemaligen Kollegen, erwähnt, über die Kissinger sich einigermaßen sarkastisch äußert. Bevor er zum ersten Mal nach Peking fuhr, ließ er sich von den namhaftesten China-Kennern und Sinologen Amerikas beraten. Dabei stellte sich heraus, daß sie in allen Punkten, was das politische Interesse Chinas anging, falsch lagen.
Der Autor hat es sich nicht nehmen lassen, seine Erfahrungen in der wichtigsten Schaltstelle der Weltpolitik seiner Zeit in allgemeinen Grundsätzen oder Maximen für das politische Handeln sentenziös zusammenzufassen, und wer sich für die Zeitgeschichte interessiert, tut gut daran, sie zu beachten.
Die wichtigste politische Einsicht jener Epoche und eine Warnung an alle großen und kleinen Atommächte: „Die besorgniserregendste Veränderung in unserer Zeit war die Veränderung des Wesens der Macht. … Ein Land kann stark genug sein, einen Gegner zu vernichten — und doch seine Bevölkerung nicht mehr vor einem Angriff schützen.“
Zur amerikanischen Neuorientierung gegenüber China: „Aus der Geschichte kann man lernen, daß es meist günstiger ist, sich der schwächeren von zwei einander feindlich gegenüberstehenden Mächten anzuschließen, weil das die stärkere zur Zurückhaltung veranlaßt.“
Zur Problematik eines Friedensschlusses, dessen Dauer niemals sicher feststeht: „Denn was bedeutet ein bindender Friede zwischen souveränen Nationen, da doch ein Attribut der Souveränität das Recht ist, seine Meinung zu ändern?“
Als Nixon und Kissinger beschuldigt wurden, gegen Indien voreingenommen zu sein — dies sei ein Mißverständnis: „Eine ernsthafte Politik muß sich auf Analysen stützen und nicht auf Gefühle.“
„Wer sich ernsthaft mit internationalen Angelegenheiten beschäftigt, weiß, daß eine gemeinsame Politik nur Bestand haben kann, wenn beide Seiten ihr eigenes Interesse verfolgen.“
Begründete Bedenken gegen die sprichwörtliche Weisheit, wem Gott ein Amt gebe, dem gebe er auch Verstand: „Im großen und ganzen verbraucht man in einem hohen Amt intellektuelles Kapital; man erwirbt es nicht.“
„Es ist ein verbreiteter Mythos, daß Politiker in hohen Stellen sofort von wichtigen Ereignissen unterrichtet werden. … Es geschieht nicht selten — für die emotionale Stabilität des Sicherheitsberaters viel zu oft —, daß sogar der Präsident wichtige Ereignisse erst aus den Tageszeitungen erfährt.“
Über die israelische Verhandlungstaktik: „Mit ihrer absoluten Unnachgiebigkeit und ihren verschlungenen Taktiken erlauben es die Israelis ihrem Gesprächspartner gerade noch, so weit bei klarem Verstand zu bleiben, daß er das Schlußdokument solcher Verhandlungen unterschreiben kann.“
Über eine ministerielle Erklärung zum Nahost-Problem: „Die stilistische Schwerfälligkeit des Satzes zeigt, auf wie schwachen Füßen der Kompromiß mit der Bürokratie stand. Hier bewahrheitete sich die alte Redensart, ein Kamel sei ein von einem Ausschuß entworfenes Pferd.“
Über ein Geräusche produzierendes Tonbandgerät, das in ausländischen Städten das Abhören verhindern sollte: „Ob wir mit dieser Methode Erfolg hatten, wußten wir natürlich nicht, aber jeder, der den Apparat längere Zeit benutzte, mußte selbst verrückt dabei werden.“
„Das Abhören von Telefonen ist vielleicht verabscheuungswürdig, aber diese Praxis ist ebenso verbreitet wie das Telefon selbst und fast ebenso alt. In allen größeren westeuropäischen Demokratien … werden Telefone von den Geheimdiensten und Untersuchungsbehörden abgehört, und zwar in einem Umfang, der das, was die Regierung Nixon auf diesem Gebiet getan hat, weit in den Schatten stellt.“
Eine historische Einsicht: „Der Erste Weltkrieg — dessen Beginn ebenso sinnlos war wie sein Ausgang — führte zu einer Katastrophe, die in keinem Verhältnis zu den ursprünglichen Kriegszielen stand. 90 Prozent der Studenten, die 1914 auf der britischen Universität Oxford ihr Abschlußexamen abgelegt hatten, sind in dem Gemetzel des großen Krieges als junge Offiziere gefallen.“
Als im April 1969 ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug von Nordkorea abgeschossen wurde: „Erst viel später haben wir gelernt, daß in Krisensituationen Kühnheit die größte Sicherheit gewährt.“
Anläßlich der iranischen Revolution: „Was an unserer Politik in den siebziger Jahren mit Recht kritisiert wird, ist die Tatsache, daß wir diese fast metaphysische Rebellion gegen die Modernisierung nicht begriffen haben. Wir waren nicht nur durch unsere Loyalität gegenüber dem Schah geblendet (…), um zu begreifen, was uns vorgeworfen wurde, sondern auch durch die westlichen Auffassungen über wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt als Allheilmittel.“
Über Georges Pompidou: „Er besaß die Gabe des Skeptikers, den Dingen auf den Grund zu gehen, und die Neigung des französischen Intellektuellen, alle Probleme so kompliziert darzustellen, daß sich darin eher der eigene Intellekt spiegelt als noch unverdaute Kriterien, mit denen sich weniger komplexe Persönlichkeiten zu beschäftigen pflegen.“
Über Egon Bahr: „Was seine angebliche Verschlagenheit betraf, so neigte ich zur Auffassung Metternichs, daß nichts schwieriger ist, als mit einer absolut ehrlichen Persönlichkeit Verhandlungen zu führen.“
Über die Nachsicht europäischer Politiker angesichts des Autoritätsverlustes Nixons im Jahre 1973: „Alle diese Männer waren höflich und sogar mitfühlend, aber die Politik einer Großmacht stützt sich auf Respekt und nicht auf Mitleid.“
Pétain über die Absolventen der Grandes écoles: „Sie wissen alles, leider wissen sie sonst nichts.“
Als Kissinger in Islamabad mit einer berittenen Ehrengarde, die eigentlich nur für Staatsoberhäupter vorgesehen ist, verabschiedet wurde, erklärte Bhutto im Fernsehen: „Da so viele ‚Hohlköpfe’, die Pakistan besucht hätten, dieses hohe Amt bekleideten, wäre es nur fair gegenüber den Pferden, daß sie auch einmal ein intelligentes menschliches Wesen zu Gesicht bekämen.“
Bei aller Bewunderung, die Kissinger großen Staatsmännern und klugen Politikern entgegenbringt, läßt er doch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er der Held dieser Erzählung ist — und zwar als handelnder Politiker, nicht als Privatperson. Persönliche Dinge erwähnt er nur am Rande: seinen Status als Einwanderer, seine jüdische Herkunft, seine bedrängte Jugend in Deutschland unter Hitler, seine Heirat, seine Kinder, seinen deutschen Akzent, sein spät gelerntes Englisch.
Wenn er auf Privates zu sprechen kommt, bedient er sich der bekannten patriotischen Stereotypen: „Die Ehre Amerikas und die Verantwortung, die unser Land zu tragen hatte, waren für mich keine leeren Phrasen.“ Ernster klingt sein Ton, wenn er auf das innerste Motiv seiner aufreibenden Tätigkeit unter einem schwierigen Präsidenten zu sprechen kommt: „Was die Spannungen und Anstrengungen eines hohen Amtes erträglich macht und einen daran erfreut, ist die Überzeugung, daß man seinen Beitrag zur Schaffung einer besseren Welt leistet.“
Doch auch dies ist eher nebenbei gesagt, und über die enorme Arbeitsleistung, die seine Ämter ihm abverlangen, verliert er kein Wort der Klage. Daß von ihm eine niemals aussetzende Geistesgegenwart erwartet wurde, hält er für selbstverständlich. Er muß über eine robuste Physis und ein an Besessenheit grenzendes Arbeitsethos verfügt haben. Seine ungewöhnlichen Erfolge waren auch die Frucht seines ungewöhnlichen Fleißes.
Wichtiger als diese persönlichen Bemerkungen ist aber das, was an den Memoiren ins Auge fällt: die Ausführlichkeit, der Detailreichtum, die Wiederholungen. Dies alles dient dem einen Zweck, die in der ersten Person Singular erzählte Geschichte glaubwürdig erscheinen zu lassen. Die erzählte Geschichte trägt seine Handschrift, sie zeigt seine geistige Perspektive, seinen ausgeprägten historischen Sinn und seine historiographische Methode, die Vorliebe für objektive Situationsanalysen und die Abneigung gegen sentimentale Erklärungen. Es ist evident, daß er mit all seinem gelehrten Wissensschatz und pragmatischen Können demonstrieren will, daß es möglich ist, die eigene Geschichte so objektiv darzustellen, wie ein unbeteiligter talentierter Historiker sie schreiben könnte.
Kissingers Memoiren mögen nicht den sprachlichen Glanz der Gedanken und Erinnerungen des von ihm verehrten Bismarck aufweisen. Doch sollte sie kennen, wer über die Weltpolitik jener Jahre Bescheid wissen möchte. Das gleiche läßt sich von den wenigsten Erinnerungsbüchern unserer Politiker sagen.
Am 2. November 1963 wurde der südvietnamesische Präsident Ngo Dinh Diem bei einem von der amerikanischen Regierung unterstützten Staatsstreich ermordet. Am 22. November 1963 wurde Präsident Kennedy ermordet. Die zeitliche Folge der beiden Ereignisse hat Charles McCarry, ein intimer Kenner der Washingtoner Szene jener Zeit, in einem intelligenten Politthriller als eine kausale Beziehung gedeutet: The Tears of Automn (Tränen des Herbstes) (1974). Er beschreibt die Wahrscheinlichkeit, daß Kennedys Ermordung die vietnamesische Vergeltung für die Ermordung Diems war. — Eine Vermutung, die so gut ist wie die anderen Spekulationen über den ungeklärten Fall. Die Untersuchungskommission des Kongresses von 1979 zum Tod Kennedys hat die vietnamesische Variante allerdings nicht berücksichtigt. Vielleicht wird der Fall 2029 oder 2038 endlich aufgeklärt werden, wenn die Dokumente der amtlichen Untersuchungen freigegeben werden.