Wenn man die Zeitung nur zur Information liest, erfährt man nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrheit über die Zeitung. Die Wahrheit ist, daß die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein Erreger. Bringt sie Lügen über Greuel, so werden Greuel daraus. Mehr Unrecht in der Welt, weil es eine Presse gibt, die es erlogen hat und die es beklagt!
Im Spiegel (7/13.2.2016) beschäftigen sich einige Redakteure des Blattes mit dem Vorwurf, daß die tonangebende Presse bei uns eine Lügenpresse sei. Das Ergebnis dieses angeblich selbstkritischen Nachdenkens der Spiegel-Leute ist recht dürftig — aus dem einfachen Grund, weil diese Journalisten den Kern des Vorwurfs überhaupt nicht verstanden zu haben scheinen. Das läßt sich gut mit dem folgenden Beispiel belegen.
Einer der Zeitungsleser, mit denen das Magazin gesprochen und diskutiert hat, bezieht sich, um seine Kritik an der Presse zu begründen, auf das Buch von Udo Ulfkotte über Gekaufte Journalisten. Zum Inhalt dieses Buches erfährt man nur, daß darin behauptet werde, „die Pressefreiheit sei eine Illusion, die Alpha-Journalisten seien der verlängerte Arm der Nato-Pressestelle“.
Zweitens heißt es, das Buch sei in einem Verlag erschienen, der ein „Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker“ sei — womit unterstellt wird, daß auch Ulfkotte ein Verschwörungstheoretiker sei. Dies aber soll wiederum heißen, daß Verschwörungstheoretiker nicht ernst zu nehmen seien, weil ihr Blick auf die Realität durch Vorurteile und Ressentiments getrübt sei.
Drittens wird erklärt, das Buch sei ein „Rachefeldzug“ des Autors gegen die FAZ, von der er sich „im Unfrieden“ getrent habe.
Dazu wäre folgendes zu sagen: Die Spiegel-Leute widerlegen mit keinem einzigen Wort die erwähnte Aussage des Buches, daß prominente Journalisten im Einklang mit der Nato-Politik berichteten oder zu berichten scheinen. — Dagegen ließen sich für Ulfkottes Behauptung einige Dutzend Beispiele aus den führenden Zeitungen anführen: Korrespondenten aus Washington, die zur Zeit der Regierung von Bush jr. ungeniert und unverhohlen die Position der amerikanischen Regierung im Irak- und Afghanistan-Krieg und in den geheimdienstlichen Skandalen vertraten; Leitartikler und Reporter, die im syrischen Bürgerkrieg im Einklang mit den westlichen Regierungen einseitig Partei gegen das Regime in Damaskus ergreifen; die zahllosen staatsfrommen und regierungskonformen Presseäußerungen der Vergangenheit, unsere Freiheit werde am Hindukusch verteidigt, usw. usw.
Zweitens merken die Journalisten, auch die jenes Blattes, gar nicht, daß sie selbst Verschwörungstheoretiker sind, wenn sie Assad die Hauptschuld am syrischen Bürgerkrieg geben.
Drittens haben die Spiegel-Redakteure nicht einen einzigen Fall des gekauften Journalismus, den Ulfkotte anprangert und belegt, ihrerseits widerlegt. Statt dessen weisen sie auf das mögliche psychologische Motiv seiner Pressekritik hin, als wäre mit dieser psychologischen Behauptung seine Aussagen über die Presse widerlegt. Mit anderen Worten: Die Spiegel-Schreiber kommen mit einer psychologischen Erklärung, die die zur Debatte stehende Sache überhaupt nicht trifft, statt die einzige, in diesem Zusammenhang richtige Frage zu stellen, die Frage, ob denn Ulfkottes Behauptungen wahr sind oder nicht!
Übrigens bleiben diese Schreiber sich durchaus treu, ist doch der Psychologismus und der Psychojargon seit einigen Jahren das modische Markenzeichen ihres immer und überall auf Personalia fixierten Blattes.
Der Vorwurf, jemand sei ein Verschwörungstheoretiker, ist inzwischen zu einem weitverbreiteten Klischee geworden, zu einer gedankenlosen Phrase, die ihre kritische Substanz längst verloren hat und nur noch die notorische Halbbildung der Journalisten verrät, die die Phrase im Munde führen. Deshalb ist es längst an der Zeit, auf den Autor hinzuweisen, der diese Theorie als erster beschrieben und kritisiert hat, Karl Popper nämlich.
In einem Vortrag über eine „Rationale Theorie der Tradition“ (1948) hat Popper zum ersten Mal die von ihm sogenannte „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ skizziert (Vermutungen und Widerlegungen 2000, 179ff.). Diese Theorie besagt, daß alle Übel der Gesellschaft von finsteren Interessengruppen, von mächtigen Männern oder dubiosen Gruppen geplant und verursacht seien. Dies impliziert die weitreichende, auf den ersten Blick rationalistisch gemeinte Annahme, „daß wir praktisch alles in der Gesellschaft erklären können, indem wir fragen, wer es gewollt hat“.
Dem hält Popper entgegen, daß wir zwar mit unseren Handlungen in der Regel bestimmte Ziele verfolgen, daß es aber immer ungewollte Konsequenzen unserer Handlungen gibt, die wir gewöhnlich nicht ausschalten und höchst selten vorhersehen können. „Zu erklären, warum sie nicht ausgeschaltet werden können, das ist die Hauptaufgabe der Gesellschaftstheorie“.
Popper ist natürlich nicht so naiv zu behaupten, daß niemals Verschwörungen in der Gesellschaft oder politischen Geschichte vorkämen. Er schränkt aber ein, daß Verschwörungen der gemeinten Art sehr selten seien. So erklärt er überzeugend, daß der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges auf eine "Verschwörung", d.h. einen Plan Hitlers zurückging. Außerdem verweist er darauf, daß Verschwörungen selten sehr erfolgreich seien, weil die Resultate meist von den angestrebten Zielen abwichen, wofür wiederum die Verschwörung des Nationalsozialismus und Hitlers Krieg die sprechendsten Beispiele sind.
Es lohnt sich durchaus, diese Explikation der Verschwörungstheorie der Gesellschaft im einzelnen zu durchdenken und die Reichweite der Kritik an diesem gesellschaftlichen Aberglauben genau zu beachten. Wer sich diese Mühe des Überlegens macht, wird die abfällig gemeinte Phrase der Verschwörungstheorie kaum mehr in den Mund nehmen. Wer die Verschwörungstheorie in jedem Fall ablehnt, kommt nämlich in höchste Erklärungsnot – er würde zum Beispiel implizit auch bestreiten, daß Hitler am Zweiten Weltkrieg schuld sei u.d.m.
Man kann also nicht jede Aussage, die von geplanten Aktionen bestimmter Interessengruppen spricht, als unglaubwürdige und unbegründete Theorie einer gesellschaftlichen Verschwörung abtun. Oder allgemeiner gesagt, man gebrauche nur Worte, deren Bedeutung man kennt, und man tadle nicht den Gebrauch von Worten, deren Bedeutung man nicht kennt.
Schließlich noch eine historische Reminiszenz zur Lügenpresse. Im Ersten Weltkrieg war die englische Propaganda anerkannter Meister darin, dem Deutschen Reich allerlei Greuel zuzuschreiben, was dann die deutsche Seite zu entsprechenden Gegenmaßnahmen greifen ließ — getreu dem Motto, daß im Krieg die Wahrheit das erste Opfer ist.
Über die englische Praxis hat Lord Ponsonby ein offenes Buch geschrieben: Falsehood in Wartime, wie Erwin Wickert uns mitteilt (Mut und Übermut 1992, 322). Wickert lernte jenes zynische Dokument, in dem während jenes Krieges unter vielem anderen behauptet wurde, die Deutschen töteten ihre Gefangenen, um daraus Seife zu machen, anfangs der vierziger Jahre in Shanghai kennen; er mißtraute seither allen Greuelmeldungen. Wickert aber war nicht der einzige, der während des Dritten Reiches den ausländischen Berichten über die Untaten der Nazis mißtraute — in Erinnerung an die Greuelpropaganda im Ersten Weltkrieg.
So viel zu den verheerenden und gewiß ungewollten Spätfolgen einer zynisch geplanten und effektiv verfahrenden Lügenpresse (cf. , Zur Lügenpresse).