Es ist eine Illusion zu glauben, daß Konflikte abnehmen, wenn die Menschen sich nur näher kennenlernen; das Gegenteil ist der Fall.
Es ist meine Vermutung, daß ein solcher Zusammenprall nicht immer zu blutigen Kämpfen und zu zerstörenden Kriegen führen muß, sondern daß er auch der Anlaß zu einer fruchtbaren und lebensfördernden Entwicklung sein kann. Er kann sogar zu der Entwicklung einer einzigartigen Kultur wie der der Griechen führen, die dann im Zusammenprall mit den Römern von diesen übernommen wurde. Sie wurde, nach vielen weiteren Zusammenstößen, insbesondere mit der arabischen Kultur, in der Renaissance bewußt wiederbelebt; und so wurde sie zur abendländischen Kultur, zur Zivilisation Europas und Amerikas, die schließlich in weiteren Zusammenstößen alle anderen Kulturen der Erde umgewandelt hat.
Ich glaube, daß unsere abendländische Zivilisation, trotz allem, was man mit vielem Recht an ihr aussetzen kann, die freieste, die gerechteste, die menschlichste, die beste ist, von der wir aus der Geschichte der Menschheit Kenntnis haben. Sie ist die beste, weil sie die verbesserungsfähigste ist.
Es läuft also auf die Wahl zwischen einer Hochkultur mit niedrigem staatsbürgerlichen Niveau und einer staatsbürgerlichen Hochzivilisation mit niedrigem Kulturniveau hinaus. Die amerikanische Wahl fiel eindeutig auf den bürgerlichen Anstand mit niedrigem Kulturniveau: Pop-Art, Beatmusik und Unterhaltung, Michael Jackson und Barbra Streisand. Unterhaltung statt Kunst.
Es war ein eigentümlicher Zug ihrer Großmut, daß sie nie Hand an jene legten, deren Verstand sie verwirrt glaubten.
Es macht mich krank zu hören, wie verächtlich unsere Banker darüber reden, wie sie ihre Kunden ausplündern. Ich habe fünf führende Direktoren in den vergangenen zwölf Monaten getroffen, die ihre Kunden als ‚muppets’ bezeichneten. Von ‚integrity’ ist keine Rede mehr. In den vergangenen Tagen lautete die häufigste Frage, die von Junior-Analysten über die Bearbeitung von Derivaten an mich gerichtet wurde: Wieviel Geld könnten wir unseren Kunden aus den Taschen ziehen.
Es mutet eigenartig an, wenn die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton in Ulan Bator noch im Juli 2012 unverdrossen und überheblich den Lobgesang des ‚american way of life’ anstimmte. Den Erben Dschingis Khans rief sie zu, daß wirtschaftliche Liberalisierung nicht ohne politische Liberalisierung zu haben sei. Sie widersprach energisch der wohlwollenden Despotie des großen Staatsmannes Lee Kwan Yew, der den Einwohnern seines Stadtstaates Singapur mit konfuzianisch anmutender Autorität einen Wohlstand verschaffte, der das Lebensniveau des durchschnittlichen Amerikaners weit hinter sich läßt.
Ich hatte meine Studien des Islam wieder aufgenommen, als ich in Duschanbe stationiert worden war. Beinahe jeden Tag las ich den Koran und die anderen kanonischen Texte des Islam mit einem moslemischen Gelehrten. Ich wollte nicht nur mein Arabisch und mein Persisch verbessern, sondern auch herausfinden, was die islamischen Texte über heilige Kriege und Selbstmord sagten. Die Aussage der entsprechenden Stellen war nicht eindeutig. Man konnte so ziemlich alles in sie hineininterpretieren, was man wollte.
Jedesmal, wenn ein frommer Moslem aus den erstarrten Rechtsvorschriften der Scharia, aus der kasuistischen Koran-Auslegung der Schriftgelehrten ausbrechen will, wenn er eine Synthese schaffen möchte zwischen der ursprünglichen Lehre von Medina und den Erfordernissen des industriellen Zeitalters unserer Tage, dann steht er dem lückenlosen Staats- und Gesetzes-Kodex des Gottgesandten gegenüber, der den Anspruch erhebt, alle Fragen für alle Zeiten gelöst zu haben.
Der Koran ist allumfassend, läßt keine Ausweitung zu, erlaubt keine Nebeninterpretation. Es handelt sich – dem Wesen der Botschaft gemäß – um eine göttlich inspirierte, perfekte Vorschrift für das Menschengeschlecht. Mohammed war Legislator. Er schuf bewußt die unlösliche Einheit zwischen Religion und Staat. Er war – im Gegensatz zu Jesus – Feldherr und Befehlshaber der Gläubigen, der komplette, vollkommene Mensch in den Augen seiner Gefolgsleute, das Siegel der Propheten.
Laisierung bedeutet Bruch mit dem Koran. Die Theokratie ist unveräußerlich im Koran programmiert.
Wenn ich mir ansehe, wieviel die Kulturen voneinander gelernt und wie unbefangen sie das gesammelte Material übernommen haben, dann komme ich zu dem Schluß, daß jede Kultur potentiell alle Kulturen in sich birgt und daß bestimmte kulturelle Züge nichts anderes sind als die wandelbaren Ausdrucksformen einer einzigen menschlichen Natur (cf. Ethnologische Fragen in philosophischer Sicht).
Dieser Schluß hat wichtige politische Folgen. Er läuft darauf hinaus, daß kulturelle Besonderheiten nicht sakrosankt sein können. Es gibt keine ‚kulturell gerechtfertigte’ Unterdrückung und keinen ‚kulturell gerechtfertigten’ Mord. Es gibt nur Unterdrückung und Mord, und beide sollten als solche behandelt werden, und wenn nötig, mit Entschiedenheit.
In der Schule werden die Klassiker nicht mehr gelesen. Wie bei uns.
Leset fleißig die Alten, die wahren eigentlich Alten!
Was die Neuen davon sagen, bedeutet nicht viel.
Die Kultur vererbt sich nicht, sie wird errungen.
Ich weiß nicht, wer die Germanisten oder Sprachwissenschaftler sind, die das alberne Spielchen mit dem Unwort des Jahres auf dem Kerbholz haben. Ich weiß nur, daß diese akademischen Biedermänner nicht ganz gescheit sein können, wenn sie den Ausdruck „Lügenpresse“ mit einem Tabu belegen. Sie sind blind für die wirklich bestehenden Verhältnisse in Gesellschaft, Kultur und Literatur, sie wissen nicht oder sie haben vergessen:
— daß es jenseits der Elbe über Jahrzehnte nur eine verlogene Parteipresse gab;
— daß auch diesseits der Elbe die Medienlandschaft nicht ideal geordnet war;
— daß es erst drei Jahre her ist, daß die renommiertesten Blätter der sogenannten freien Presse eine Lügenkampagne gegen Christian Wulff führten, so daß er gezwungen war, als Bundespräsident zurückzutreten;
— daß die scharfe Pressekritik der 68er Bewegung nur zu gut begründet war;
— daß die Zeitungskritik Heinrich Bölls in seinem Roman über die „Verlorene Ehre der Katharina Blum“ auf gesicherten Tatsachen beruht;
— daß ein Gericht entschieden hat, daß es zulässig ist, eine bestimmte Boulevardzeitung ein Lügenblatt zu nennen;
— daß Peter Rühmkorf, Walter Kempowski und manch anderer Autor darüber klagten, daß sie von einigen Zeitungen ignoriert und totgeschwiegen wurden;
— daß Karl Kraus in seiner lebenslangen Polemik und in unvergeßlichen Satiren die Kulturgefahr aufgezeigt hat, die mit der real gegebenen Erscheinungsform der Presse unweigerlich verbunden ist (cf. Zum Sprachverständnis von Karl Kraus).
Das Fehlerregister der Presse ist unermeßlich, aber jene Standartenführer der politischen Korrektheit halten dieses Medium für einen Hort der Wahrheit und höheren Kultur. O sancta simplicitas!
Man könnte aber einmal dahinterkommen, welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat.
Wenn man die Zeitung nur zur Information liest, erfährt man nicht die Wahrheit, nicht einmal die Wahrheit über die Zeitung. Die Wahrheit ist, daß die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein Erreger. Bringt sie Lügen über Greuel, so werden Greuel daraus. Mehr Unrecht in der Welt, weil es eine Presse gibt, die es erlogen hat und die es beklagt!
Hat uns aber der Reporter durch seine Wahrheit die Phantasie umgebracht, so rückt er uns ans Leben durch seine Lüge. Seine Phantasie ist der grausamste Ersatz für die, welche wir einmal hatten.
Es ist gar kein Wunder, daß die Menschheit immer wieder bereit ist, sich für die Machtlüge ihrer Beherrscher aufzuopfern, da sie sich selbst zum Opfer ihrer Kulturlüge präpariert hat. Sie verdankt sie demselben Journalismus, der auch jene durchzusetzen imstande war. Nur weil sie nun lügen muß, würde sie nicht zugeben, daß die notgedrungene Einschränkung der Tagespresse in ihrem geistigen Haushalt fühlbarer wird als es der Verlust aller Bibliotheken würde und daß der Umtausch von Rotationspapier gegen Lebensmittel ihr mehr an die Wurzel ihrer kulturellen Existenz ginge als die Hingabe aller Galerien. Sie bleibt für immer jener Macht verbunden, die ihre Phantasie ausrodet wie die Wälder zur Erzeugung des Papiers, auf dem es gelingt, um ihr dafür allerlei wohlschmeckenden Ersatz zu bieten.
Presse und Wahrheit kann man eigentlich nur in ironischen Zusammenhang setzen, birgt die Presse doch ständig zwei Gefahren. Erstens die der einfachen Wahrheitsentstellung, zweitens aber jene immanente Wortabstumpfung beim Schreiber und Leser, die eben die tägliche, hastige Wortmacherei mit sich bringt.
In den Zeitungen jedes Wort verlogen, sodaß es gar keinen Sinn hat, hineinzusehen. Kaum eine Information über die nackten Tatsachen möglich.
Die deutschen Schreiber sind nicht imstande, mitzuteilen, was in einem Buch steht.
Überhaupt liegt das Böse bei der Tagespresse darin, daß sie so ganz darauf berechnet ist, den Augenblick wenn möglich noch tausend und zehntausendmal mehr aufgeblasen und wichtig zu machen, als er bereits ist. Aber alle sittliche Erziehung besteht vor allem darin, daß man vom Augenblicklichen entwöhnt wird.
Es könnte auch „seit Karl Kraus“ (sofern er nur wirklich ein deutsches Ereignis wird) die Presse mehr und mehr als Kulturgefahr erkannt, und deshalb als solche auch gebannt werden. Wodurch? Nun, eben durch Lesen, wenngleich dieses freilich von anderer Art zu sein hätte als bloße Zeitungslektüre.
Die Zeitungslektüre bringt mich auf düstere Gedanken. Auf düstere Gedanken über eben diese Zeitungen, über den Journalismus. Die Zeitungen verstellen mir die Sicht wie ein Vorhang. Genauer gesagt, wie ein Schleier, denn von dem, was sich dahinter bewegt, von den Dingen, die dort stehen, und den Szenen, die sich dort abspielen, lassen sie doch etwas erkennen. Nur bedarf es dazu eines geübten, gut geschulten Auges. Nicht eines scharfen, das genügt nicht. Eines erfahrenen. Und diese Erfahrung hat nicht jeder.
Beeindruckend ist außerdem ihre Gleichförmigkeit. In den Berichten über Ereignisse lassen sich manchmal Unterschiede wahrnehmen. Kaum jemals aber in ihrer Beurteilung.