Josef Quack

Zum "Spiegel"-Bild der katholischen Kirche




Wenn der Katholizismus entartet, welche Form der Verderbnis wird sich dann zeigen? Die Antwort ist leicht: Scheinheiligkeit. Wenn der Protestantismus entartet, welche Form der Verderbnis wird sich dann zeigen? Die Antwort ist nicht schwer: geistlose Weltlichkeit.

S. Kierkegaard

Ein zeitgeistgemäßes Christentum ist ein Widerspruch in sich.

J.Q.

Die pfingstliche Titelgeschichte des Spiegel (Nr.21/2021), "Ist die katholische Kirche noch zu retten?", ist nach Art des Magazins sensationell aufgemacht. Sie ist in manchem zutreffend, in anderem oberflächlich und ungenau. Sie enthält aber erstaunlicherweise die tiefe Einsicht, daß gerade die radikalsten Reformbestrebungen töricht oder im Hinblick auf die Konsequenzen nicht gut durchdacht sind.

Der Artikel handelt von der gegenwärtigen „Glaubwürdigkeitskrise der Kirche“ und macht dafür vier Faktoren namhaft: den Skandal des sexuellen Mißbrauchs Kinder und Jugendlicher durch Kleriker, der jahrzehntelang vertuscht wurde und bis heute nicht befriedigend aufgeklärt ist; die angebliche Diskriminierung von Homosexuellen in kirchlichen Einrichtungen; das Verbot, Frauen zum Priestertum zuzulassen, und schließlich der vorgeschriebene Zölibat der Priester.

Es besteht wohl kein Zweifel daran, daß der Skandal der Mißbrauchsfälle ein Hauptgrund für die zunehmende Welle der Austritte aus der Kirche ist. Daß hier noch manches aufzuklären ist, hat inzwischen selbst der Vatikan erkannt, führt er doch in dieser Sache eine Visitation, d.h. eine Überprüfung in Köln durch. Hier wäre daran zu erinnern, daß Kardinal Ratzinger vor zwanzig Jahren kirchenrechtliche Richtlinien erlassen hatte, um die klerikalen Täter belangen zu können, und der weitere Skandal besteht darin, daß in den deutschen Diözesen diese Vorschriften offensichtlich nicht konsequent ausgeführt wurden.

Was die Frage der Homosexualität angeht, so wird wohl die kirchliche Moral erwähnt, wonach diese Veranlagung als nicht normal gilt und ihre Ausübung sündhaft sei. Auch wird pauschal die „überkommene Sexualmoral“ kritisiert. Was aber fehlt, ist gerade eine Auseinandersetzung mit dieser Moral, eine Diskussion ihrer Prinzipien, ihrer Normen und deren Begründung (cf. J.Q., Das Sextum in kirchlicher Sicht ). Weil diese Sexuallehre nicht mal in Ansätzen vorgestellt wird, hängt die Kritik des Verbots der Homosexualität gleichsam in der Luft. Es wird schlicht vorausgesetzt, daß dies eine Diskriminierung und die kirchliche Segnung homosexueller Paare gerechtfertigt sei. Diese Aktion selbst aber ist, für sich betrachtet, nur ein kurioses Randphänomen und dessen Verbot dürfte kaum an der erwähnten Glaubwürdigkeitskrise schuld sein.

Es fehlt in dem Artikel durchweg die religiöse oder theoretische Hintergrundinformation, die viele Phänomene erst verständlich machen könnte. So hat etwa Benedikt XVI. nachgewiesen, daß nach seiner Ansicht, „Homosexualität mit dem Priesterberuf nicht vereinbar“ sei, weil sie dem Sinn oder der Idee des Zölibats widerspreche (Licht der Welt 2010, 181). Es genügt nun nicht, als Gegenbeispiel ein paar freundliche homosexuelle Pfarrer vorzustellen; nötig wäre vielmehr der Nachweis, daß Ratzingers Begründung falsch sei.

Ähnliches läßt sich zur Frage des Zölibats sagen, der angeblich von einer Mehrheit der Katholiken heute abgelehnt wird. Zunächst ist er kein „Dogma“, wie er hier genannt wird, sondern eine rechtliche Vorschrift, die durchaus geändert werden könnte. Auch ist „Pflichtzölibat“ eine mißverständliche Formulierung, da es sich hier um eine freiwillige Entscheidung der Kleriker handelt. Es heißt sehr richtig, Papst Franziskus könnte „mit einem Federstrich Verlogenheit und Doppelmoral beenden“. Wohlgemerkt, damit ist aber doch wohl die Verlogenheit und Doppelmoral der vielen Geistlichen gemeint, die sich nicht an den Zölibat halten. Sind nicht gerade sie unglaubwürdig und als Kleriker an der Glaubwürdigkeitskrise der Kirche schuld? Man fragt sich, warum sie einen Beruf ausüben, dessen Bedingungen sie nicht anerkennen. Das gleiche gilt auch für die von Hans-Urs von Balthasar sogenannten „anonymen Atheisten“ unter den Theologen, die wider ihre Überzeugung in Amt und Würde bleiben.

Dies ist genau das Verhalten, das Kierkegaard im Motto als Scheinheiligkeit oder Heuchelei bezeichnet. Die ganze Sache ist eine Frage der intellektuellen Redlichkeit, von denen manche Kirchenleute niemals etwas gehört zu haben scheinen. Dagegen verdient die hier genannte Frau, die zu den Alt-Katholiken übertrat, weil diese die Frauen zum Priestertum zulassen, unseren Respekt – sie handelte nach ihrer inneren Überzeugung.

Übrigens ist die hier referierte historische Tatsache, daß im 17. und 18. Jahrhundert Pfarreien oft vom Vater auf den Sohn vererbt wurden, kein Argument gegen das Zölibat, sondern ein Argument für das Zölibat. Es wurde nämlich auch gerade deshalb eingeführt, um die Vererbung kirchlicher Ämter, d.h. lukrativer Pfründen, zu verhindern.

Zur Frage des Zölibats wäre noch nachzutragen, daß Ratzinger einmal gefragt wurde, warum er als Theologie-Professor eine von Rahner und Lehmann verfaßte Petition zur Aufhebung des Zölibats unterzeichnet habe. Er antwortete, daß er aus Freundschaft zu den anderen unterschieben habe: "Das war nicht so glücklich. Aber ich würde sagen, es war nicht eine Forderung nach Aufhebung des Zölibats. Es war ein typisch rahnerischer ja-und-nein verklausulierter Text, den man sowohl nach der einen wie auch nach der anderen Richtung auslegen konnte." (Bendedikt XVI., Letzte Gespräch mit Peter Seewald. 2016, 185.)

Was aber das Problem des Priestertums der Frauen angeht, so ist es in der Kirche umstritten. Johannes Paul II. verkündete lehramtlich, daß die Kirche die Vorschrift, Frauen nicht zum Priestertum zuzulassen, nicht ändern dürfe. Anderer Ansicht sind dagegen einige renommierte Theologen, so auch der bekannte Moraltheologe Bernhard Häring, der hier von einer „mißlungenen Infallibilisierung“ spricht; damit ist gemeint, daß die lehramtliche Verkündigung jenes Verbots nicht unfehlbar sei, weil dazu wesentliche Voraussetzungen fehlten (Häring, Meine Hoffnung für die Kirche 1997, 129).

In einer Hinsicht kann man den Autoren des Spiegel-Artikels aber nur zustimmen: „Hilft es, wenn Katholiken immer protestantischer würden? … Die evangelische Kirche ist da kein gutes Vorbild…. die Selbstsäkularisierung des Protestantismus ist so weit fortgeschritten, daß dieser von vielen für irrelevant und entbehrlich gehalten wird. Anders sind die ähnlich hohen Austrittszahlen aus der evangelischen Kirche kaum zu erklären.“ (Es müßte natürlich heißen: "die hohen Zahlen des Austritts aus der evangelischen Kirche"). — Diese Lagebeurteilung bestätigt wiederum genau die Prognose Kierkegaards.

Die naheliegende Schlußfolgerung, daß hinter der Glaubwürdigkeitskrise der Kirchen heute, wie übrigens zu allen Zeiten, letztlich eine Glaubenskrise steckt, wird aber in dem Artikel nicht vollzogen.

Zur Frage des Priestermangels wäre zu ergänzen, daß er dramatischer erscheint, als er tatsächlich ist. Es wird eine Pfarrei von zehntausend Mitgliedern erwähnt, die ein Pfarrer zu betreuen habe. Dabei wird übersehen, daß von diesen Mitgliedern höchstens zehn Prozent, also eintausend Mitglieder, praktizierend sind, und die zu versorgen geht gewiß nicht über die Kräfte eines einzelnen Menschen. Merkwürdigerweise wird das Problem, daß die deutsche Kirche, als typischer Verbandskatholizismus, mit ihren Gremien überorganisiert sein könnte, überhaupt nicht erwähnt.

Als Fazit wäre dreierlei festzuhalten.

♦ Erstens, die deutsche Amtskirche leidet derzeit unter einem gewaltigen intellektuellen Defizit. Wie hier richtig moniert wurde, fand sich unter den 68 Bischöfen keine einzige Stimme, die überhaupt ein geistliches Wort zu der alle Lebensgewohnheiten umstürzenden epidemischen Katastrophe geäußert hätte. Außerdem gibt es heute, nach Ratzinger, keinen namhaften deutschen Theologen, der die sacra doctrina den Zeitgenossen plausibel verdolmetschen könnte, und schließlich, die deutschen Bischöfe haben eine Einheitsübersetzung der Bibel, nunmehr schon in der zweiten Fassung, vorgelegt, die für eine seriöse Schriftlesung ungeeignet ist (cf. J.Q., Ungenügend - die revidierte Einheitsübersetzung ). Ein größeres Armutszeugnis in geistiger Hinsicht läßt sich christlichen Vorstehern wohl kaum ausstellen.

♦ Zweitens, die Kirche ist, trotz ihres spirituellen Charakters, auch eine menschliche Institution, und wie bei jeder menschlichen Veranstaltung wird es in ihr immer moralische, geistige, politische Fehler, Irrtümer und Mißstände verschiedenen Grades geben. Freilich kann dies keine Entschuldigung sein für die amtskirchliche Vertuschung der klerikalen Mißbrauchsfälle.

♦ Drittens sollte man sich im klaren darüber sein, daß ein zeitgeistgemäßes Christentum ein Widerspruch in sich wäre. Der Spiegel-Artikel steht unter dem biblischen Motto „Nicht von dieser Welt“, was hier kritisch bedeuten soll, daß die Amtskirche in einem trivialen Sinn weltfremd, in vielerlei Dingen unvernünftig sei. Im biblischen Sinn besagt das Wort aber, daß das christliche „Reich“ prinzipiell im Gegensatz zur „Welt“ steht. Karl Rahner schreibt in dem unverändert aktuellen Strukturwandel der Kirche (1972), das Wesen des christlichen Glaubens bestehe in einer Entscheidung, „die letztlich doch immer auch in einem kritischen Abstand von der ‚Welt‘, also auch von einem durchschnittlichen Meinen und Sichverhalten der gesellschaftlichen Umgebung des Menschen getroffen werden muß“ (S. 26).

Dies kann natürlich keineswegs heißen, daß in der Kirche heute kein Reformbedarf bestünde. Rahner hat vor fünfzig Jahren genau beschrieben, in welchen Punkten die Kirche sich ändern müsse, wenn sie unter den geänderten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Gegenwart noch gehört werden wolle. Er hat auch schon auf die Gefahr einer Mentalität hingewiesen, daß die Vertreter einer Kirche, die zu einer kleinen Herde geschrumpft ist, sich freiwillig in ein geistiges Getto einschließen, also so etwas wie eine Festungsmentalität ausbilden. Ebendies war dann in den letzten Jahrzehnten in dem Bemühen zu erkennen, das Dekorum, den guten Ruf scheinheilig zu bewahren und alle Mißstände zu vertuschen. Es war die schlechteste Wahl, die die Amtskirche treffen konnte.

J.Q. — 30. Mai 2021

© J.Quack


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