Rez.: Walter Isaacson, Kissinger. Biographie. Dt. J. Schebera u.a. München 2024, 942 S.
In den Augen seines Kammerdieners ist niemand ein großer Mann.
Das Buch von Walter Isaacson ist die Neuauflage der deutschen Fassung von 1993, das Original erschien 1992. Es kann nur ein unvollständiges Porträt Kissingers zeichnen, da es sich lediglich auf die zweibändige Autobiographie über Kissingers Jahre unter Nixons stützen konnte, nicht jedoch auf Kissingers Bericht über die Regierung Fords, Jahre der Erneuerung (1999). Vor allem aber fehlt in dieser Lebensbeschreibung ein Blick auf die spätere Rückkehr Kissingers zur Politikwissenschaft, auf seine großen Werke, die Summe seiner politischen Erfahrung, grundsätzliche Reflexion über Macht und Politik. Es sind vier umfangreiche, gewichtige Bände: Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik (1994), China zwischen Tradition und Herausforderung (2011), Weltordnung (2014) und Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert (2022).
Es versteht sich von selbst, daß Kissinger in seiner zweibändigen Rechenschaft über die Präsidentschaft Nixons diese Zeit und ihre politischen Verwicklungen ausführlicher und kompetenter schildert als Isaacson, der für diese Periode sich hauptsächlich auf Kissinger stützt. Da er für die Präsidentschaft Fords keine vergleichbare Vorlage zur Verfügung hat, konnte er darüber nur einen mageren Bericht geben. So verliert er kein Wort über die Zypern-Krise, die mit dem Antritt Fords als Präsident zusammenfällt. Er wurde am 9. August 1974 vereidigt und zu gleicher Zeit kam es zu diesem Umschwung, in deren Verlauf die Türkei Teile Zyperns besetzte und ein militärischer Konflikt der Türkei mit Griechenland drohte. „Die Zypernkrise erwies sich als Schlüsselereignis für die Präsidentschaft Fords“, schreibt Kissinger (Jahre der Erneuerung 1999, 155). Isaacson ignoriert dieses Ereignis und damit auch das Geschick, mit dem Kissinger die Krise zu meistern half.
Vorweg also läßt sich sagen, daß die Stärke dieser Biographie nicht in den lückenhaften politischen Kapiteln besteht, sondern in der Schilderung der Jahre Kissingers vor seiner politischen Tätigkeit und der Jahre nach seinem Abschied von den politischen Ämtern. Das empfindlichste Manko der Biographie besteht darin, daß Kissingers politikwissenschaftliches Spätwerk nicht berücksichtigt werden konnte. So schließt das Buch mit einem Bericht über den geschäftstüchtigen Berater wirtschaftlicher Konzerne und politischer Instanzen. Der versierte Interpret und kluge Darsteller der Staatskunst, der, alles in allem, gewiß ebenso bedeutend ist, wie es der aktive Außenpolitiker war, bleibt außer dem Blickfeld seines Biographen. Nicht zu reden davon, daß in diesem Spätwerk Kissingers Begegnung mit Adenauer beschrieben wird und daß damit eine Episode der Beratertätigkeit unter Kennedy zur Sprache kommt, von der Isaacson nichts zu sagen weiß.
Sein Buch hinterläßt in den letzten Kapiteln von seinem Helden den Eindruck eines politischen Medienstars, der schließlich zum Multimillionär wurde, weil er seine politischen Beziehungen geschickt in gutes Geld umsetzen konnte. Seine Geschäftstüchtigkeit erhält durch die breite Schilderung ein höheres Gewicht als sein politisches Genie, das doch auch schon in der von ihm konzipierten Außenpolitik und gepflegten Diplomatie unübersehbar war und nicht erst in seinem theoretischen Spätwerk über Politik und Weltordnung.
Zur Person
Heinz Alfred Kissinger wurde am 27. Mai 1923 in Fürth geboren, das mit damals 3000 jüdischen Einwohnern ein Zentrum jüdischer Tradition in Bayern war. „Alfred“ war eine Eindeutschung von „Abraham“. Sein Vater Louis, stolzer Studienrat, ein geachteter Titel des Bürgertums, und seine Mutter Paula, geborene Stern, waren orthodoxe Juden und auch Heinz hielt sich in seiner Jugend an die Gebote dieser Religion. Er soll sogar mit seinen Freunden täglich zwei Stunden die Bibel und den Talmud studiert haben (S.22), was aber wenig glaubhaft ist, wie ein Vergleich mit dem Judaisten Gershom Scholem zeigt: er lernte zwei Stunden in der Woche Hebräisch (Von Berlin nach Jerusalem 1978, 53).
Es war dann Paula Kissinger, die erkannte, daß nach den Rassegesetzen 1935 für die Juden in Deutschland keine Lebenschancen mehr bestanden. Sie organisierte die Emigration nach New York. Im August 1938 kam die Familie in Amerika an und einen Monat später trat Henry in eine New Yorker Schule ein. Als er 1943 zur Armee kam, wurde er automatisch amerikanischer Staatsbürger.
Kissinger selbst hat immer bestritten, daß seine bedrängte Kindheit im Dritten Reich der Schlüssel für sein späteres Verhalten sei, während andere darin die Quelle seiner Unsicherheit erkennen zu können meinten (S.26), was eine psychologische Spekulation ist, an der ich mich nicht beteiligen möchte. Auch kann ich in Kissingers Selbstbewußtsein und politischem Agieren alles andere als Unsicherheit erkennen. Übrigens ist das Psychogramm, das Isaacson von dem Helden seiner Biographie zeichnet, der schwächste Teil des Werkes.
Daß Kissinger später aufhörte, praktizierender Jude zu sein, führt der Biograph auf das Erlebnis der Nazi-Greuel zurück, er kann dafür aber nur die allgemeine Bemerkung anführen, daß „der Holocaust die Verbindung zwischen Gottes Willen und dem Verlauf der Geschichte zerstört“ habe (S.31). Eine widersprüchliche Aussage, da der Autor nicht merkt, daß „Holocaust“, auf deutsch „Brandopfer“, eine religiöse Kategorie ist, Ausdruck jüdischen Kultes. Den Massenmord der Juden durch die Nazis als Holocaust zu bezeichnen, heißt aber, ihm einen religiösen Sinn zu geben.
Richtig ist die Ansicht des Autors, daß Kissingers Geist europäisch geprägt war und daß er sich für „archetypische amerikanische Erscheinungen wie Mark Twain“ niemales erwärmen konnte. Das gilt jedoch nicht für Thomas Jefferson, den Kissinger in seinem Spätwerk durchaus als Begründer der Staatsdoktrin würdigt, wonach Amerika das republikanische Vorbild für die übrigen Welt sein solle (Die Vernunft der Nationen 1994, 29f.). Als „Imperium der Freiheit“ hatte Amerika für Jefferson eine politische Mission für die gesamte Menschheit (Weltordnung 2014, 267). Selbstverständlich hat Kissinger als politischer Akteur niemals vergessen, daß diese Staatsdoktrin das amerikanische Politikbewußtsein zutiefst geprägt hat.
Mark Twain war übrigens ein lustiger Mann und ein grimmiger Indianerhasser. Soll das typisch amerikanisch sein?
Kissinger hat einmal anschaulich beschrieben, wie er Amerika als Land der Freiheit erlebte: „Bevor wir nach Amerika auswanderten, hatten meine Eltern und ich schwer unter Verfolgung und Diskriminierung zu leiden. Mein Vater verlor seinen Posten als Lehrer, für den er ein Leben lang gearbeitet hatte. Jugendfreunde wandten sich von meinen Eltern ab. Ich war gezwungen, eine besondere Schule zu besuchen. Jeder Gang auf die Straße wurde zum Abenteuer, denn meine deutschen Altersgenossen durften sich an jüdischen Kindern vergreifen, ohne daß die Polizei dagegen einschritt. / In dieser Zeit wurde Amerika für mich ein Land mit bewundernswerten Eigenschaften … Und ich werde nie vergessen, welche Erregung mich ergriff, als ich zum erstenmal durch die Straßen New Yorks ging. Als ich einige Jungen sah, wollte ich auf die andere Straßenseite gehen, um nicht verprügelt zu werden. Dann erinnerte ich mich plötzlich, wo ich war.“ (Memoiren 1968-1973, 1979, 249f.)
Freilich handelte es sich um ein friedliches Viertel, das hauptsächlich von Juden und Emigranten bewohnt war, nicht um ein Viertel, das durch Straßenkriminalität verunsichert war. Daran erinnert Rick in Casablanca den deutsche Major Strasser: „Ich möchte Ihnen nicht raten, in einige Viertel New Yorks einzumarschieren.“
Kissinger kam im März 1945 als Soldat, Dolmetscher und Fahrer nach Deutschland zurück. Er hatte die Aufgabe, in den zerstörten Städten die zivile Verwaltung wieder herzustellen und ehemalige NS-Funktionäre ausfindig zu machen. Später dozierte er an einer Armeeschule über diese Aufgabe. Er verließ Deutschland und die Armee und begann 1947 sein Studium auf der Harvard-Universität, das er 1955 abschloß.
Über den Studienbetrieb dieser Universität kann man aber nur den Kopf schütteln. Ein Professor verlangte von ihm, bevor er sein Tutor werden wollte, daß er „eine vergleichende Studie zu Kants Kritik der reinen Vernunft und Kritik der praktischen Vernunft schreiben" sollte (S.66) – eine Aufgabe, die sachgemäß kaum ein Doktorand bewältigen konnte; das Ergebnis konnte also nur oberflächlich sein.
Wichtiger aber als der Studiengang war, daß Kissinger damals sich ein Netzwerk von akademischen und politischen Beziehungen aufzubauen begann, indem er im „Internationalen Seminar“ für ausländische Studenten viele Menschen kennenlernte, die später in ihren Ländern einflußreiche Figuren wurden, wie etwa Giscard d’Esteing, und als Gastdozenten lud er bekannte Vertreter der Politikwissenschaft ein; er gab eine kleine Zeitschrift heraus, zu der er ebenfalls anerkannte Autoren einlud. Nach der gleichen Methode verfuhr er als Professor, 1957-1968, als er das Defense Studies Program leitete; hier konnte er Gerald Ford als Dozent gewinnen. Unter Kennedy wurde er bei einigen Gelegenheiten Regierungsberater, bevor er in das Beraterteam von Nelson Rockefeller eintrat.
Seine außenpolitische Kompetenz hatte er schon in seinem ersten Aufsatz bewiesen, der im April 1955 in der berühmten Zeitschrift Foreign Affairs erschien und die nationale Sicherheitspolitik behandelte. Er kritisierte darin die damalige offizielle Doktrin der massiven Vergeltung mit Kernwaffen bei einem drohenden Konflikt. Damit hatte er sein Thema gefunden, über das er 1957 Kernwaffen und auswärtige Politik schrieb, ein Buch, das ein Bestseller wurde und den Autor in der politischen Öffentlichkeit Amerikas und des Westens bekannt machte.
Seine weiteren Stationen in der Politik sind bekannt: Sicherheitsberater in der Regierung Nixons, Außenminister unter Nixon und Ford. Weniger bekannt ist, daß 1980 noch einmal eine minimale Chance bestand, daß er wieder Außenminister hätte werden können. Ronald Reagan wollte Gerald Ford als seinen Vizepräsident engagieren. Ford aber stellte die Bedingung, daß Kissinger Außenminister werden sollte, was Reagan strikt ablehnte, weil der europäisch begründete, reflektierte Konservativismus des Emigranten mit dem hausbackenen Konservativismus der geborenen Amerikaner politisch unverträglich war (S.841). Diese Ablehnung hielt Kissinger aber nicht davon ab, als Historiker die unerwartet erfolgreiche Ost-Politik Reagans später durchaus fair und objektiv zu beurteilen; wahrscheinlich hatte er sie gründlicher verstanden als der Präsident mit dem schlichten Gemüt selbst (Weltordnung 2014, 352ff.).
Auf das eher geschwätzige als sachverständige Psychogramm, das Isaacson von Kissinger zeichnet, will ich nicht näher eingehen. Es ist allzu sachfremd und läppisch. Er spricht da von Paranoia (S.159), der Einstellung eines Höflings (S.80), dem Eifer des Emigranten (S.97; 894), soziale Unsicherheit (S.303) und dergleichen mehr pseudopsychologischem Unsinn. Das alles zeugt eher von der amerikanischen Überschätzung der wissenschaftlichen Psychologie und dem Glauben an die Heilkraft psychologischer Techniken als von gesundem Menschenverstand. Ein Sprichwort sagt, daß es in Amerika mehr Psychologen als Postboten gibt. Diese Einlassungen des Autors sind laienhaftes Gerede, das man nicht ernst nehmen darf, obwohl es ernst gemeint ist. Unter Paranoia versteht man das Leiden unter Wahnvorstellungen, eine Art Geistesgestörtheit. Derartiges einem der erfolgreichsten Politiker seiner Generation zuzuschreiben, ist völlig unglaubwürdig, erst recht dann, wenn man ihm zugleich einen brillanten Intellekt bescheinigt.
Der Autor sieht "Kisssingers Genie" darin, daß er in der Diplomatie "kontrovere Probleme hinzubiegen" und derartiges "in schöpferische Zweideutigkeit" zu kleiden vermag - was selbst ein zweideutiges Lob ist und keineswegs der gewöhnlichen Bedeutung von "Genie" entspricht (S.561).
Zur Politik
Wer die Memoiren Kissingers gelesen hat, findet in dieser Biographie keine neuen Fakten politischer Art von einigem Gewicht. Zu erwähnen wäre allenfalls, daß Daniel Ellsberg, der später die Pentagon-Papiere veröffentlichte, für kurze Zeit ein Mitarbeiter Kissingers war (S.183), und daß Ford auf Drängen Kissingers Nelson Rockefeller zum Vizepräsidenten gewählt hat (S.709). Weit ausführlicher als nötig werden die Intrigen innerhalb des Regierungsapparates ausgebreitet und das prekäre Verhältnis Nixons zu Kissinger beschrieben, über das uns die Memoiren schon genügend unterrichtet haben. Nixon mag seinen Sicherheitsberater wegen seiner diplomatischen Erfolge und seines glamourhaften Ansehens in den Medien beneidet haben, er rief aber nur Kissinger am Abend vor seinem Rücktritt zu sich, um sich mit ihm auszusprechen, und Kissinger hat in seiner Staatskunst Nixon als einen von sechs großen Staatsmännern des Jahrhunderts gebührend und dankbar gewürdigt – schließlich war es Nixon, der ihm die Chance bot, Außenpolitik zu entwerfen und zu realisieren.
Isaacson hat bei aller biographischen Kleinteiligkeit doch auch die wichtigsten politischen Verdienste und Anregungen Kissingers verzeichnet. In einer Rede für Rockefeller 1968 erklärte er, daß es für den Vietnam-Krieg keine militärische Lösung gebe, und er forderte eine neue Politik gegenüber dem kommunistischen China, was schließlich die bedeutendste außenpolitische Leistung der Regierung Nixons werden sollte (S.139). Als weitere Erfolge Kissingers werden genannt die Vereinbarungen über Berlin und SALT, der Vertrag mit Moskau über Rüstungsbegrenzung (S.377).
Kissingers Arbeitsstil, seine cholerische, strenge Amtsführung, die außerordentlichen Anstrengungen, die er von seinen Mitarbeitern rigoros forderte, werden kritisch gesehen, doch dann anerkannt, „daß Kissingers Stab einer der wenigen Orte in Washington war, wo unabhängiges Denken geschätzt wurde und nicht Speichelleckerei“ (S.222).
Weniger positiv wird Kissingers diplomatischer Verhandlungsstil beurteilt, wobei aber übersehen wird, daß dieser Stil außergewöhnlich erfolgreich war. Gelegentlich äußert sich der Biograph wie Kissinger in allgemeinen Sentenzen: „Denn eine zuverlässige Regel der Diplomatie besagt, daß man nichts am Verhandlungstisch erreichen kann, was nicht auch auf dem Schlachtfeld zu gewinnen ist“ (S.269). Es ist eine Weisheit, die mit der historischen Erfahrung nichts zu tun hat, weil darin übersehen wird, daß diplomatische Vereinbarungen im Unterschied zu Kriegen keine Ressentiments und keinen Groll bei dem Gegner hinterlassen. Auch weiß der Biograph nicht recht, ob er Kissingers angebliche Doppelzüngigkeit bei Verhandlungen schlicht verurteilen oder dessen offenkundige Klugheit vorbehaltlos loben soll (S.647).
Was Isaacson zu den politischen Krisen und ihrer Bewältigung im einzelnen sagt, will ich nicht näher erörtern – bei Kissinger findet man eine sachgerechtere Darstellung und eine gründlichere Analyse. Ich möchte nur das höchst fragwürdige Kapitel über den Vietnam-Krieg erwähnen, weil sich darin zeigt, daß der Vietnam-Krieg noch in den neunziger Jahren für die politische Öffentlichkeit Amerikas eine unverheilte Wunde war. Diese Kapitel bilden denn auch den politischen Kern der Biographie.
Zu dem Vietnamisierungsprogramm, das besagt, daß die südvietnamesische Armee nach dem Rückzug der Amerikaner den Krieg allein gegen Nordvietnam führen sollte, bemerkt Isaacson, es habe die Saigoner Armee 1973 eher in die Lage versetzt, sich selbst zu verteidigen, als sie es 1969 war: „Haben sich aber vier weitere Kriegsjahre gelohnt, um einen Waffenstillstand zu erreichen, bei dem Thieu in Saigon an der Macht bleiben konnte? / Das Ergebnis war mit einem zu hohen Preis erkauft: dem Tod von weiteren 20.552 Amerikanern, schweren Erschütterungen in Amerikas Sozialgefüge …“ (S.564).
Dazu wäre zu sagen, daß der Autor hier schlicht und einfach die simple Meinung der blauäugigen Friedensbewegung vertritt, die ohne Rücksicht auf die Folgen für Südvietnam für einen Rückzug Amerikas aus diesem Krieg plädierte, niemals aber den Vertragsbruch Nordvietnams und dessen anschließende Gewaltherrschaft über den Süden verurteilte. Auch überschätzt der Autor die Stärke der Saigoner Armee, und extrem kurzsichtig ist seine Meinung, daß es um den Machterhalt des Saigoner Präsidenten Thieus gehe. Vielmehr stand die Freiheit von Millionen Südvietnamesen auf dem Spiel, was die amerikanischen Kritiker geflissentlich übersahen. Sie bedenken nicht, daß die USA seinerzeit Südkorea gerettet haben, nun aber Südvietnam einem Gewaltregime ausliefern. Auch fragt der Autor nicht, ob denn die Gründe für die sozialen Erschütterungen, gemeint sind die Demonstrationen der Kriegsgegner, denn politisch gerechtfertigt und stichhaltig waren. Er bewertet den studentischen Protest in Amerika höher als die Freiheit von Millionen Vietnamesen.
Alles in allem wird man nicht sagen können, daß der Autor sich über dieses Thema besonders klar geworden sei. Meines Erachtens zeigt sich hier eine typisch amerikanische Perspektive, die auf das Wohl des eigenen Landes fixiert ist.
Den gleichen Eindruck vermittelt die Erörterung über den Gegensatz von Realpolitik, wie Kissinger sie befürwortete, und den moralischen Idealen, die für Amerika essentiell seien. Kissinger hat diese Spannung in der politischen Doktrin durchaus gesehen. Wenn man jedoch die Geschichte Amerikas betrachtet, muß man sagen, daß die Doktrin der reinen Machtpolitik meist das Verhalten der USA gegenüber seinen Nachbarn und Gegnern dominierte, z.B. in der Beziehung zu Lateinamerika.
Falsch ist die Behauptung, Kissinger sei indirekt mit Watergate verbunden gewesen. Seine Geisteshaltung, die Telefone von Beamten abhören zu lassen, sei die gleiche Einstellung wie die der „Klempner“, die die Büros der Demokraten abhörten (S.702). Es ist aber ein entscheidender Unterschied zwischen der Suche nach undichten Stellen im Regierungsapparat und der Ausspionierung einer anderen Partei. Das eine ist legal, das andere kriminell. Unrichtig ist die Aussage, Kissinger habe unter Ford seinen Posten als Sicherheitsberater aufgegeben (S.785). Er hat den Posten nicht aufgegeben, sondern wurde entlassen, wie es dann richtig heißt (S.786). Der finanzielle Erfolg seiner späteren Beratertätigkeit wird auf seine „geistige Substanz“ zurückgeführt und auf einen weiteren Faktor: „Teil seiner Anziehung war eine mystische Kraft, die alles noch wertvoller machte“ (S.827) – was reiner feuilletonistischer Schwulst ist.
Höchst aufschlußreich ist dagegen, was Isaacson über die gesellschaftlichen Werte, Ressentiments und Vorurteile in Amerika ausführt, daß zum Beispiel der soziale Status, die reiche Familie, die amerikanische Geburt, eine außerordentliche Rolle spielt für das Ansehen und die Wirkungsmöglichkeiten eines Politikers. Daß Kissingers Politik niemals von den rechten, konservativen politischen Akteuren unterstützt wurde, lag letztlich auch an seiner Herkunft und europäischen Orientierung (S.129). Dies war auch der entscheidende Grund, warum Reagan auf seine Mitarbeit verzichtete. Kissinger ist bei aller Popularität niemals das verdächtige Image eines jüdischen Emigranten losgeworden und oft genug von eingesessenen Amerikanern mit verletzender Herablassung behandelt worden (S.121). Was die umstrittene Südostasienpolitik anging, so habe Kissinger gefühlt, „daß die jüdischen Emigranten in der Regierung zu Sündenböcken gemacht werden könnten“ (S.322). Neben dem unbestreitbaren gesellschaftlichen Antisemitismus in Amerika bekam Kissinger auch eine gewisse Germanophobie zu spüren, obwohl er vor Hitler aus Deutschland geflohen war.
Zur Übersetzung
Die Übersetzung ist alles andere als sorgfältig und genau, geschweige denn elegant. Es ist da die Rede von Kants „obskuren politischen Traktat Zum ewigen Frieden", wo es heißen müßte „von dem unbekannten politischen Traktat“, da diese Schrift mehrmals anerkennend erwähnt wird. Zu „Alamo“ merkt der Übersetzer an: „Missionsstation in San Antonio, Texas“. Er hat die Symbolkraft des Ortes, an dem Reagan eine Rede hielt, nicht verstanden. „Alamo“ steht für den Unabhängigskeitswillen der Amerikaner. Hier hat 1836 eine Gruppe Freiwilliger sich in der Verteidigung der Station gegen eine mexikanische Übermacht geopfert, um Texas die Zeit zu verschaffen, eine eigene Armee aufzustellen. Statt „an ein Buch herangehen“ müßte es heißen „ein Buch zu planen“. Statt „was ihn am meisten besorgte“ müßte es heißen „was ihm am meisten Sorge machte“ oder „um was er sich am meisten sorgte“ (S.798). Dann gibt es Sätze, die hoffnungslos grammatisch verworren sind (cf. S.708).
Fazit
Nach meiner Meinung bestand Kissingers Leistung als Politiker, sowohl als Theoretiker wie als Praktiker staatlichen Handelns, darin, daß er den Handlungsspielraum der amerikanischen Politik wesentlich erweitert hat. Er hat nachgewiesen, daß die amerikanische Politik nicht auf die starren Alternativen des Kalten Krieges festgelegt ist, sondern noch andere Möglichkeiten des politischen Verhaltens hat. Die Möglichkeit aber ist die Rettung, wie Kierkegaard sagt. D.h. in einer bedrängten, verzweifelten Situation ist schon die Aussicht auf eine Handlungsmöglichkeit die Rettung.
In seinem ersten politischen Aufsatz hat Kissinger für eine dritte Möglichkeit plädiert neben der massiven Vergeltung eines Atomkrieges und der politischen Kapitulation. Er sprach sich für die Alternative eines begrenzten Krieges aus, was der Politik die Chance gab, ihre Diplomatie durch machtpolitische Argumente zu bekräftigen. Das gleiche Denkmodell lag der Aufnahme politischer Beziehungen zu China zugrunde. Der machtpolitische Gegensatz zwischen Amerika und der Sowjetunion wurde um einen dritten Faktor erweitert, was die amerikanische Position gegenüber Rußland erheblich stärkte und, wie Kissinger sagte, „die Struktur der internationalen Politik veränderte“.
Isaacson würdigt diese Politik mit den Worten, daß „die Herstellung einer strategischen Beziehung zum kommunistischen China wahrscheinlich die bedeutsamste und klügste Initiative der amerikanischen Außenpolitik seit dem Start des Marshallplans und der Gründung der Nato“ gewesen sei (S.384). Nicht zu vergessen wäre, daß Kissinger auch als Vordenker der Rüstungskontrolle gewürdigt wird.
Es ist die Stärke dieser Biographie, daß trotz aller Einschränkungen darin die politische Leistung Kissingers im wesentlichen doch gesehen und anerkannt wird, und es ist ihre Schwäche, daß den unwichtigen Nebendingen, den allzumenschlichen Intrigen und Reibereien in der Bürokratie, dem Starrummel und Medienbetrieb, den hauptstädtischen Partys, vor allem aber der dilettantischen psychologischen Charakteristik, viel zu viel Platz eingeräumt wird und eine Unmenge läppischer Zitate von bedeutenden und unbedeutenden Zeitgenossen angeführt wird.
Es bleibt der Verdacht bestehen, daß der Autor dem Irrtum vieler Biographen erliegt, daß spezifisch politische Aktionen und Konflikte sich letztlich psychologisch erklären ließen, wo es in Wirklichkeit um vorgegebene Sachzwänge und unbeabsichtigte Nebenfolgen geht, die sich dem menschlichen Handlungswillen entziehen. Gewiß spielt der menschliche Faktor in der Geschichte eine Rolle, aber nur in den Grenzen des faktisch Möglichen. Es war Kissingers Verdienst, daß er erkannt hat, daß die Grenzen der amerikanischen Politik weiter gespannt sind, als man damals annahm.