Es freuet mich, mein Herr, daß Ihr ein Dichter seid.
Doch seid Ihr sonst nichts mehr, mein Herr? Das ist mir leid.
I. Der Sinn von Poetik-Vorlesungen
II. Magere Jahre, Schreiber von heute
III. Fette Jahre, Rückblick
Es gibt im Prinzip nur zwei diskutable Gründe, die es rechtfertigen, daß Dichter Poetikvorlesungen halten. Im Idealfall kann eine derartige Vorlesung dazu dienen, unser Wissen über das Gedicht, das Drama, den Roman an sich zu erweitern. D.h. wir lernen durch eine Vorlesung dieser Art etwas wesentlich Neues über die Literaturtheorie, die Romanpoetik oder die Erzähltheorie. Allerdings wird diese Intention nur in den seltensten Fällen auch nur halbwegs überzeugend verwirklicht. So etwa in Gottfrieds Benns Rede über die Lyrik oder in den Schriften Bert Brechts über das Theater. Mustergültig und wahrhaft innovativ in der neueren Literatur waren aber allein Alfred Döblins Reflexionen über das epische Werk, eine Fundgrube theoretischer Einsichten über das Wesen von Dichtung und Erzählung, die filmische Montage im modernen Roman (cf. Zur Romantheorie Döblins).
Aus der Nachkriegszeit läßt sich kein einziger Autor nennen, der zur Literaturtheorie oder Romanpoetik ähnlich Grundlegendes beigesteuert hätte. Freilich erscheint dieser Umstand weniger brisant, wenn man bedenkt, daß auch die Germanisten dieser Jahre in theoretischer Hinsicht nicht besonders kreativ waren, um ein wissenschaftliches Defizit höflich zu umschreiben. Zu nennen wäre allenfalls die Logik der Dichtung von Käte Hamburger, die bezeichenderweise bei Döblin gelernt hat und einen Gedanken seiner epochemachenden Akademie-Rede aufgreift und weiterführt.
Der zweite Grund, der für Poetikvorlesungen von Autoren geltend gemacht werden kann, ist die Erwartung, daß die Autoren etwas Erhellendes über ihr eigenes Werk zu sagen haben. Das aber setzt zweierlei voraus. Es sollte erstens ein respektables Werk vorhanden sein und zweitens sollte der Autor fähig sein, über dieses Werk vernünftig zu räsonieren. Was die Autoren der letzten Jahre angeht, die in Frankfurt zur Vorlesung antraten, so ist offensichtlich, daß es meist an beiden Bedingungen empfindlich mangelte. Die meisten Schreiber waren einfach zu unbedeutend und, was sie zu sagen hatten, war kaum der Rede wert.
Wenn man aber einmal das Unwahrscheinliche annimmt, daß die beiden genannten Voraussetzungen gegeben sind, dann ergibt sich sofort der Einwand, daß ein Autor nicht der berufene Interpret seines Werkes ist, wie das im personalisierten Medienbetrieb heutzutage als selbstverständlich unterstellt wird. Sein Kommentar zu seinem Werk ist nicht mehr und nicht weniger wert als irgendeine andere Interpretation. Die heute gängige üble Praxis der Selbstinterpretation beruht auf einem psychologistischen Unverständnis, was Kunst und Literatur eigentlich bedeuten. Oder mit den Worten Hans-Georg Gadamers: „Die moderne Mode, die Selbstinterpretation eines Schriftstellers als Kanon der Interpretation zu verwenden, ist die Folge eines falschen Psychologismus”. Wiederum anders gesagt, was die Frage angeht, ob die Selbstkommentare der Autoren wahr sind, so gilt hier das gleiche Kriterium wie für die anderen Interpretationen: die Übereinstimmung mit dem Text des Werkes.
Die Frankfurter Poetik-Vorlesung wurde in den fünfziger Jahre eingerichtet und bis in die sechziger Jahre fortgeführt. Nach einer Unterbrechung von einem Jahrzehnt wurde sie 1979 wieder aufgenommen. Nach diesem Neubeginn kommen anfangs noch einige respektable Schriftsteller zu Wort, die sich angesichts der genannten Schwierigkeiten doch ganz anständig aus der Affäre ziehen konnten. Bei den vorlesenden Schreibern der jüngsten Zeit gebietet es jedoch die Achtung vor der Wahrheit, daß man feststellt, daß sie als Autoren entweder kein bedeutendes Werk vorzuweisen hatten oder nichts Bedeutendes zu sagen hatten oder beides zusammen: unbedeutende Autoren wußten nichts Relevantes über ihr Metier vorzubringen.
Über die nicht zu leugnende Nullität von Terézia Mora und ihrer Vorlesung im Januar 2014 hatte ich das Nötige gesagt; es lohnt nicht, es zu wiederholen.
Von Daniel Kehlmann habe ich am 3. Juni 2014 am gleichen Ort eine Vorlesung besucht, war aber noch mehr enttäuscht, weil ich doch einiges von ihm erwartet hatte, denn Kehlmann hat immerhin einen lesbaren, überaus erfolgreichen Roman über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß veröffentlicht (cf. Sieg der Unterhaltung). Nun aber verbreitete er sich, äußerst selektiv, unzureichend informiert und wenig eindrucksvoll, über das intellektuelle Klima des Nachkriegs. Er bezog sich hauptsächlich auf Texte von Ingeborg Bachmann, eine überschätzte Randfigur dieser Jahre, ohne die weitaus bedeutenderen literarischen und philosophischen Stimmen dieser Zeit, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit so intensiv wie vorbildlich beschäftigt hatten, auch nur zu erwähnen. Statt dessen verneigte er sich vor einem literarischen Blender wie W.G. Sebald (cf. Falscher Ruhm) und wies wortreich nach, was kein Mensch jemals bezweifelt hat, auch Peter Alexander nicht: daß die albernen Filmkomödien von Peter Alexander albern sind. Nachdem ich diese leere Tautologie gehört hatte, verzichtete ich auf einen weiteren Besuch seiner Vorlesung.
Der Leipziger Schriftsteller Clemens Meyer nannte seine Veranstaltung „Der Untergang der Äkschn GmbH“. Äkschn GmbH steht wohl für spannende Unterhaltungsliteratur, was er Kolportageliteratur nennt. Was er am 16. Juni 2015, vor rund dreihundert Hörern magna voce deklamierend, zum besten gab, war weniger eine Vorlesung als eine Lesung. Er trug mit leidenschaftlicher Anteilnahme eine assoziative, autobiographische, rhythmisch gegliederte Prosa vor, in der er von seinen frühen Lese-, Film- und Fernseherlebnissen erzählte und den zahlreichen Einfällen, die ihm dabei kamen. Am Ende der Lesungen sollte sein persönlicher Kanon der Literatur stehen. An diesem Abend sprach er vor allem über Karl May und B. Traven, dessen Maxime ihn stark beeindruckte: als Person verschwinden, nur das Werk gelten lassen. Hinzukamen Reminiszenzen an DDR-Literaten wie Franz Fühmann, den er verehrte, und Johannes Becher, den er parodierte und als sexbesessen denunzierte. Er erwähnte auch, daß ihn das Kirchenlied von Paul Gerhard gegen die Parteilyrik immunisiert hatte.
Was soll man zu diesem Vortrag sagen? Die Sache war durchaus unterhaltlich, vor allem deshalb, weil der Autor selbst von ihr überzeugt war und sie leidenschaftlich vortrug. Das große Manko dieser Art von Literatur mit einem leicht pubertären Einschlag ist jedoch unübersehbar. Ich werde den Verdacht nicht los, daß die Vorliebe für die Assoziationsprosa eine späte Reaktion auf die braven Muster des unseligen Sozialistischen Realismus ist. Der Autor orientiert sich an einem literarischen Verfahren, das als modern galt, nämlich der Technik des Bewußtseinsstromes — tatsächlich aber geht diese Darstellungsmethode, wie Karl Popper nicht müde wurde zu unterstreichen, auf die Assoziationspsychologie zurück, die seit mindestens hundert Jahren wissenschaftlich überholt ist. Außerdem hat der mündliche Vortrag eines derart verwirrend konfusen Potpourris den Nachteil, daß man selten genau unterscheiden kann, was Zitat und was Eigengewächs des Sprechers ist. Wissenswert sind immerhin noch die konkret beschriebenen Erlebnisse eines Autors, der in den Jahren des Niedergangs der DDR sich mit der Literatur bekanntmachte. Auch sind mir Karl May-Leser immer sympathisch: sie befinden sich in bester Gesellschaft, in der Gesellschaft von Ernst Bloch, Arno Schmidt, Hans Wollschläger.
In bester Erinnerung sind die Frankfurter Vorlesungen (1964) von Heinrich Böll geblieben, weil er die beiden entscheidenden literarischen Probleme des Nachkriegs zur Sprache brachte und dafür eine plausible Lösung vorschlug. Er antwortet auf das bekannte Diktum von Adorno: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch”, indem er Adornos Wort radikalisiert, um dann die Konsequenzen zu beschreiben, die ein Schriftsteller ziehen muß, wenn er in der von Grund auf veränderten Situation noch schreiben will: „Man kann nach Auschwitz nicht mehr atmen, essen, lieben, lesen — wer den ersten Atemzug getan hat, sich nur eine Zigarette ansteckt, hat sich entschlossen, zu überleben, zu lesen, zu schreiben, zu essen, zu lieben”. Die erste Konsequenz besteht für Böll in der Einsicht, daß es buchstäblich nichts mehr gibt, das sich von selbst verstünde: „Verlorene Heimat, verlorene Zusammenhänge, kein vertrautes Gelände”. Wenn Böll in seinem Werk den einfachsten Lebensäußerungen des Menschen, den Grundbedingungen der Existenz, jene Aufmerksamkeit widmet, die seine Schriften auszeichnet, dann deshalb, weil er gegen den Verlust von Selbstverständlichkeiten anschreibt.
Genau das war übrigens mit dem literarischen Slogan von der Stunde Null in der Literatur gemeint: der Verlust der Selbstverständlichkeit, das Verbot, so weiterzumachen, als sei nichts geschehen; die Verpflichtung, das Einfachste neu zu beschreiben. Diese Intention trennt seine Erzählungen von jener Alltagslyrik der siebziger Jahre, die einfach nur trivial war und sein wollte. (Cf. Zur Darstellbarkeit äußersten Grauens)
Sommer 1979: In seinen Vorlesungen, die er Begleitumstände überschrieb, erzählte Johnson die Entstehungsgeschichte seiner Bücher, ihre Aufnahme durch die literarische Kritik, sein Verhältnis zu seinen Verlegern, die öffentlichen Affären, deren Ursache oder Opfer er war. Es war ein Rechenschaftsbericht im Stil pedantischer Genauigkeit, in der ihm eigenen leicht verqueren Diktion und konsequent verrückten Wortstellung, im drögen Tonfall nordostdeutschen Gemütes. Die Äußerungen waren an Leser gerichtet, die sein Werk, besonders natürlich die Jahrestage für wichtig halten.
Februar 1980: Muschg verbreitete sich über „Literatur und Therapie, Literatur und Schreiben, Literatur und die Versäumnisse der Studentenrevolte — mit diesen Themen hatte Muschg offensichtlich berührt, was vielen auf den Nägeln brennt.
Bei konzeptualisiertem Wissen über die Psychologie hielt Muschg sich nicht auf, er stellte den Seminarteilnehmern eine Haus- und Schreibaufgabe, als wären sie in einer Malerakademie. Man sollte sich selbst, Aug in Aug mit seinem nackten Spiegelbild, eine Rede halten. Man sollte weder wie Richard III. seine 'eigne Mißgestalt erörtern' noch es dem Jüngling Narkissos nachtun, der schmachtend vor seinem schönen Abbild verharrt und an sich, wie ein verkleideter Disco-Fan, das verleugnet, was nicht schön und großartig ist.
Wie zu erwarten, hatte Muschg damit einem gruppentherapeutischen Dilettantismus Vorschub geleistet und die Schleusen mancher Psyche geöffnet, die in ihm einen psychoanalytisch gebildeten Briefkastenonkel sah. Dem suchte er sich mit Takt und Geschick zu entziehen.
Er findet es unverständlich, daß einer sich für die Bedürfnisse Unterdrückter einsetzen zu können glaubt, der seine eigenen wahren Bedürfnisse nie kennengelernt hat. Er jedenfalls möchte von denen nicht gemocht werden, die sich selbst nicht mögen.
Er meinte: Das Interesse für die schöne Literatur mag man Flucht nennen. Man sollte aber beachten, daß Flucht nicht immer etwas Schimpfliches ist, sondern in einer lebensgefährlichen Situation das Richtige sein kann. Scheherezades Erzählungen dienten nicht nur der Unterhaltung des Sultans, sondern auch zur Lebensrettung der Erzählerin.
Zuletzt ging er auf die neueste Diskussion ein, ob Schreiben als Selbsterfahrung auf dem Papier nicht bedeutender sei als die erklärte Literatur. Wie in vielen Fragen verweigerte Muschg auch hier, sehr zum Mißfallen einiger Hörer, die eindeutige Antwort. Die Literatur jedenfalls, die er anvisiert, lebt aus der Spannung von stilistischer Kunst und sinnlicher Ehrlichkeit.” (J.Q., Adolf Muschg in Frankfurt, Zwischen Dichtung und Therapie. F.A.Z. 15.2.1980)
Herbst 1980: Walsers Ausführungen über Selbstbewußtsein und Ironie waren die ambitioniertesten Poetikvorlesungen eines Autors, die an diesem Ort wohl je gehalten wurden, und sie enttäuschten über alle Maßen. Er zitierte seitenweise Fichte, Hegel, Kierkegaard, als genügte es in einer literaturtheoretischen Arbeit Autoritäten zu zitieren, wo es in Wirklichkeit allein auf plausible Argumente ankommt. Dergleichen aber sucht man in diesen philosophisch naiven Vorlesungen durchaus vergebens. Er übersetzt die Zitate nicht einmal in seine eigene Sprache, d.h. er sagt nicht, wie er sie versteht. Immerhin haben wir es hier mit den hermetischsten Texten der neueren Philosophiegeschichte zu tun.
Walser verbreitet sich in Zitat und eigener Rede wortreich über den Begriff des Selbstbewußtseins, ohne auch nur eine einzige neuere kritische Studie über diese Frage anzuführen. Er ahnt nicht einmal, welche unüberwindliche Probleme in den Denkformen des Deutschen Idealismus stecken. Was er über die Ironie bei Thomas Mann, Kafka & Co ausführt, ist gedanklich so bescheiden, daß er es auch ohne das scheingelehrte Brimborium hätte sagen können.
Walser ist ein unermüdlich schwatzender Sprecher, ein Redner mit einer unglücklichen Liebe für Philosophie, aber ganz gewiß kein scharfer Denker, so wie er übrigens auch kein genuiner Erzähler ist. Zweifellos ein fleißiger Schreiber, der wohl an die vierzig oder mehr Bücher zustandegebracht hat, aber kein einziges Werk, das im Reich des Witzes, d.h. der Literatur wirklich zählt — hinc illae lacrimae, daher seine unvernünftige Wut auf die Literaturkritik.
Sommer 1984: Paul Nizon ist ein wenig bekannter, heute wohl ganz vergessener Schweizer Autor in der Nachfolge Robert Walsers. „Mit seinem ersten Buch Canto war er ‚ein berufsmäßiger Flanierer und Lebensbeobachter’ geworden. Er hatte sich mit diesem Buch ein Instrument erarbeitet, aber noch keinen Weltbesitz gewonnen. Hier sind aber schon die wichtigsten Motive seines Werkes angedeutet: die Stadt als Metapher für die uneinnehmbare, verlockende Welt; die Reise, das Haus, der Tod und vor allem die Frau, die Frau als Vertreterin der Stadt, die Vereinzelung aufheben würde, die Frau als die Garantin des Lebens.
Stolz war Nizons größter Erfolg, die beste Aussteigergeschichte jener Jahre des gesellschaftlichen Eskapismus …
Da Nizon sich Robert Walser auf eine gefährliche Weise verwandt fühlt, kann er an ihm auch eine Kritik üben, wie man sie sonst in den Würdigungen nicht findet. Er sieht in Walser einen Dichter, der zeit seines Lebens einer idealen Jünglingsfigur verhaftet ist, einen Schriftsteller, der sich nirgends richtig einbürgert oder verleiblicht, der dem Leben gegenüber immer nur Seele, Jünglingsseele bleibt.”
Während die Vorlesungen von Christa Wolf und Peter Härtling von tausend Leuten besucht wurden, konnte Nizon zuletzt kaum hundert Hörer für sich interessieren. (J.Q., Nur diese Schreibpassion in den Fingern. Paul Nizon dozierte in Frankfurt Poetik. F.A.Z. 1.7. 1984)
Dezember 1984: Ernst Jandl hielt eigentlich keine Vorlesung, sondern eine Lesung, ist er doch der beste, der allein überzeugende Sprecher seiner Lautgedichte.
„Jandl sieht sich innerhalb einer Tradition der Dichtung, die von Hitler unterdrückt wurde und es auch später nicht leicht hatte. Er wies darauf hin, daß nach dem Krieg Thomas Mann und Brecht, dem er manches verdankt, sofort wieder als Klassiker präsent waren, nicht aber die Vertreter der künstlerischen Revolution, für die Hugo Ball, August Stramm und Kurt Schwitters stehen. Diese Art von Literatur wurde erst in den fünfziger Jahren fortgeführt, von Gomringer, Bense, Heißenbüttel, den Autoren der Wiener Gruppe. Lange Jahre mußte er selbst glauben, daß er niemals gedruckt würde. Manches von dem, was er vorlas, konnte als artistisches Spiel, einiges vielleicht auch als bloßer Jux gedeutet werden.
Ein Moment der Kritik besteht für Jandl darin, daß die Kunst sich in sich selbst ihre Freiheit bewahrt, ihre Liberalität der Normabweichung. Deshalb verwirft er auch die eindeutigen Agitationsgedichte, die zur Zeit der Protestbewegung beliebt waren. Von Getrude Stein hat Jandl nicht nur poetische Formen, sondern vor allem das Mißtrauen gegen eine falsche Psychologisierung in der Dichtung übernommen.
Auch zitierte er wieder John Cage: ‚Ich habe nichts zu sagen und ich sage es, das ist Poesie, wie ich sie brauche.’ Die Betonung legte er jetzt auf das Nichts, von dem seine Dichtungen auch handeln. Ein letztes Mal erläuterte er das Öffnen und Schließen des Mundes und verwies auf das erstaunliche Vermögen der Sprache, die dank ihres Doppelcharakters als akustisches und optisches Zeichensystem die Trennung von Sehen und Hören bisweilen in der Dichtung aufheben kann. Mit einem Gutenachtgedicht und der Zugabe seines ‚weihnachtslieds’ verabschiedete er sich von den begeisterten Zuhörern.” (J.Q., Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen von Ernst Jandl. Das Öffnen und Schließen des Mundes. F.A.Z. 21.12.1984)
Sommer 1996: Rolf Hochhuths Poetik-Vorlesung vom 2. Juli 1996 war eine erfrischende Sache, ein Plädoyer für eine politische Literatur, eine Polemik gegen die Kritiker, die einen Gegensatz zwischen politischer Dichtung und Interesse für das leidende Individuum konstruiert haben wie ein berühmter Rezensent, dessen Votum gegen Heinrich Mann Hochhuth ebenfalls verwarf. Er brachte Beispiele von Voltaire bis Zola. Daß dieser durch Meuchelmord starb, wurde erst nach 50 Jahren publik, wie er mit Hinweisen auf Jüngers Tagebuch und Karl Korns Zola-Biographie belegte. Er argumentierte gegen Schillers Votum, daß Voltaire kein Gemüt, Herz habe, indem er daran erinnerte, daß Voltaire für die Verfolgten eingetreten sei. Hochhuth verteidigt den Schulfunk: das Beste sei für Schüler gut genug. Das Wort war gegen die Kritiker gerichtet, die politische Dichtung als didaktisch, eben als Schulfunk bezeichnen.
Hochhuth wendet sich dagegen, daß die politischen Werke als Dichtungen verworfen werden. Sein Musterbeispiel war Nathan, unser größtes Stück, das er gegen Faust stellt, dessen Unübersetzbarkeit er rügt. Anläßlich einer New Yorker Aufführung bemerkt er: muß sich ein Grauhaariger mit dem Teufel verbünden, um einen Teenager umzulegen? „Lessing steht für alles, was die Gesellschaft ein Recht hat von dem Künstler zu verlangen”. Die Kritiker unseres Jahrhunderts, Gundolf u.a. wußten nicht, „welcher Kategorie er einsam angehört hat”. Über Goebbels sagte er: „das Maul einer sehr geräuschvollen Partei”. Über Lessings großes Werk: „Aus Notwehr entstanden, ist Nathan notwendig geblieben”. Hochhuth gesteht aber auch zu, daß es große Dichtung gibt, deren Wert darin liegt, daß sie ein Privatissimum ist. Spott über den Parteiliteraten Franz Mehring, der wie andere politische Ästhetiker der politischen Dichtung den Kunstwert absprach. Spott auch über den vielgerühmten Philologen Ernst Robert Curtius, der 1950 den Lessing-Preis erhielt und nur den Kritiker Lessing gelten lassen wollte.
Hochhuth zitiert die Verse Lessings, die ich als Motto für diesen Artikel verwendet habe. Hochhuth meint, die Probleme seien immer gleich, und nicht auf Dauer lösbar, siehe das Problem der Toleranz im Nathan. Lessing hält er für den einzigen Politiker unter den Dichtern, wie Schiller oder Büchner Historiker seien. Zeitgemäß müßte es heute statt Gedankenfreiheit heißen: Geben Sie die Wirtschaftsfreiheit. Er meint, daß die Zeitungen nicht gegen den Wirtschaftseinfluß anschreiben könnten, deshalb seien die Dichter, die Bühne nötig, die politisch unabhängig sei. Christliche Nächstenliebe ist seines Erachtens die Forderung der Stunde; Ideen, die gewaltlos überzeugen, entarten nicht zur Ideologie. So sein Schlußwort.
Hochhuths Verteidigung der politischen Literatur ist gut, sein Hinweis auf ethische Motive hervorragend. Was er über Goethe sagte, ist nicht ernst zu nehmen.