Viel hat erfahren der Mensch.
Der Himmlischen viele genannt,
Seit ein Gespräch wir sind
Und hören können voneinander.
Verstehen hat, nach dem unübertroffenen Standardwerk von Hans Georg Gadamer, die Struktur eines Gesprächs (Wahrheit und Methode 1965, 360ff.). Verstehen bedeutet, sich mit jemand im Medium der Sprache in einer Sache verständigen. Verstehen setzt also vier Bedingungen voraus:
– Man muß dieselbe Sprache sprechen wie der Gesprächspartner,
– man muß den Partner als gleichwertig anerkennen,
– man setzt voraus, daß er die Wahrheit sagt,
– man will sich in einer Sache verständigen, über eine Frage einig werden. Gadamer hat dieses Wesensmerkmal des Verstehens energisch betont, weil es meistens übersehen wurde, was sich bis heute nicht geändert hat.
Als selbstverständlich wird noch angenommen, daß in dem Gespräch oder auf das Gespräch kein Druck ausgeübt wird, es sich also um einen herrschaftsfreien Diskurs handelt, wie Jürgen Habermas es später ausdrückt.
Verständnislosigkeit, das Gegenteil von Verstehen, bezeichnet nun den geistigen Zustand des Nichtverstehens, des Nichtwissens oder des Desinteresses, des Nichtverstehenwollens, des Nichtwissenwollens. Verständnislosgkeit ist ein geistiger Mangel, eine Art geistige Trägheit oder sogar ein bewußt begangener Fehler. Als Einstellung eines Partners führt sie zu einer Störung des Gesprächs, meistens zu einem Abbruch der Kommunikation, da eine elementare Bedingung des Gesprächs nicht mehr gegeben ist.
Im folgenden interessieren mich vor allem jene Fälle von Verständnislosigkeit, die von den Partnern selbst verschuldet, nämlich absichtlich verursacht sind. Meistens sind es Fälle, wo das Nichtwissen nicht einmal eingestanden wird; man tut so, als wüßte man Bescheid, während man von der verhandelten Sache keine Ahnung hat. Verständnislosigkeit ist wie das Verstehen leider ein universales Phänomen; es tritt in allen Sphären des Menschenlebens auf – ich möchte nur einiges zum akademischen Betrieb anmerken, zur Privatsphäre und zur leidigen Politik.
Daß Prüfungsgespräche und Arztgespräche keine echten, sondern Pseudogespräche sind, leuchtet unmittelbar ein.
Auch ist klar, daß Gespräche, die von wohlmeinenden Psychologen oder Beratern zu dem Zweck des persönlichen Kennenlernens angesetzt werden, in der Regel so peinlich wie ergebnislos verlaufen. Aus der Definition des Verstehens ergibt sich vielmehr, daß man sich am besten kennenlernt bei gemeinsamen Unternehmungen, bei gemeinsamer Arbeit, selbst bei einem gemeinsamen Spiel, auf einer gemeinsamen Reise, also bei Gelegenheiten, wo es darum geht, gemeinsam irgendwelche Probleme zu lösen oder sich in einer Sache zu verständigen.
Es scheint eine déformation professionelle, eine Berufskrankheit von Professoren, Lehrern oder Ärzten zu sein, daß sie oft ein Wissen vortäuschen, das sie in Wirklichkeit nicht haben. Sie sind häufig unfähig zuzugeben, daß sie etwas nicht wissen, was sie von Berufs wegen eigentlich wissen müßten.
Es ist nun ein seltener Glücksfall, daß Victor Klemperer (1881-1959), Romanistik-Professor in Dresden, Greifswald, Halle und Berlin, in seinem Tagebuch, einem authentischen Dokument der Aufrichtigkeit, das Phänomen dieser Berufskrankheit getreulich zugegeben, genau analysiert und pünktlich aufgezeichnet hat (cf. , Über das authentische Selbstbild , S.175f.). Hier eine sprechende Auswahl seiner Bekenntnisse.
„Und immer wieder: ich weiß zu wenig. Wie oft in den letzten Jahren vor meiner Entlassung hat mich das geängstigt: werde ich meine Professorenrolle unentlarvt zuendespielen können?“ (25.10.1947)
„Jeder ist mir feind und ich muß meine Ignoranz cachieren u. die Rolle des Gelehrten spielen.“ (5.10.1948)
„Gestern habe ich also zum erstenmal an der Univ. Halle gelesen, wovor ich etwas Lampenfieber hatte. Werde ich bis zum Ende meine Ignoranz auch hier verbergen können?“ (13.10.1948)
Nach einem Gespräch mit seinem Rivalen Werner Krauss: „Sie sprechen von principiellen u. persönlichen Dingen des Marxismus, der Soziologie usw., von denen ich keine Ahnung habe. Dabei tue ich immer, als wüßte ich ganz genau Bescheid.“ (24.12.1948)
„Seit vielen Jahren quält mich meine Ignoranz. Immer denke ich: wird es mir diesmal noch gelingen, sie zu verbergen?“ (11.4.1950)
Als er erfährt, daß Heinrich Manns Henri IV stark auf Ranke gestützt sei: „Ich tat, als sei mir das ganz geläufig, obwohl ich nie eine Zeile von R. gelesen habe.“ (22.12.51)
Als er von Phonetik und Phonologie hört: „… mir absolut neu. Ich muß so tun, als hätte ich selbstverständlich de Saussure schon mal in der Hand gehabt – ich hatte keine Ahnung von Saussure, er ist mir erst in allerletzter Zeit ein paarmal unheimlich aufgetaucht.“ (5.8.1952)
Auch räumt er, der Autor einer mehrbändigen Geschichte der französischen Literatur, ein, daß er die berühmten Liaisons dangereuses (Gefährliche Liebschaften) von Choderlos de Laclos nie, weder auf deutsch noch auf französisch gelesen habe (19.7.1954). Dann fügt er in seine Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts ein paar Zeilen über De Sade ein, „ohne ihn selber gelesen zu haben“ (10.11.1958).
Erstaunliche Bekenntnisse eines Gelehrten, die eine Wirklichkeit schildern, die nicht nur seine Sache ist; vielmehr dürfte Klemperer die normale Einstellung vieler Professoren getroffen haben, die es für unter ihrer Würde halten, ihr Nichtwissen zuzugeben. Klemperer hat dieses Zugeständnis wenigstens in seinem Tagebuch gemacht.
Ich habe etliche Germanistik-Professoren kennengelernt, die von Philosophie nur nebelhafte Kenntnisse hatten, die von Hegel nur den Namen kannten und von der Philosophie Wittgensteins nicht die geringste Ahnung hatten; ich bin sogar einem Germanistik-Professor begegnet, einem angeblichen Nietzsche-Kenner, der dessen Schrift über David Friedrich Strauß offensichtlich nicht gelesen hatte. Im weitverbreiteten Fischer Lexikon Literatur (1996) schreibt ein Germanist über Autobiographie, ohne das Wort der persönlichen Identität, den Kernbegriff der Selbstbeschreibung, auch nur zu nennen.
Die philosophische Unbildung vieler Literaturwissenschaftler ist deshalb so peinlich, weil die europäische Dichtung in vielen Fällen aufs engste mit der Philosophie der Zeit verflochten ist. Goethe wird man kaum recht verstehen, wenn man Spinoza nicht kennt; Schiller orientierte sich an Kant; Hofmann karikiert Fichte (cf. Künstlerische Selbsterkenntnis); Döblin bezieht sich auf Kierkegaard (cf. Diskurs der Redlichkeit); Koeppen wendet sich Sartre zu (cf. Wolfgang Koeppen).
Auf einer Tagung erlebte ich einen Deutsch-Professor, der nicht wußte, was Allegorese ist. Das Wort ist übrigens im Fremdwörterbuch des Duden (1990) verzeichnet, nicht aber im Rechtschreibe-Duden (2009). Es bezeichnet die Auslegung eines Textes, die neben der wörtlichen Bedeutung noch eine zweite Bedeutung annimmt.
Ich sah auch Verfasser von Literaturgeschichten, die von Geschichtstheorie und den Problemen der Geschichtsphilosophie rein gar nichts wußten. Desgleichen erlebte ich auch Kirchenhistoriker, die, in Erbsenzählerei vertieft, keines theoretischen Gedankens fähig waren.
Damit ist ein Hauptübel der methodisch wenig exakten Geistes- und Kulturwissenschaften genannt, das schon Lichtenberg kritisiert hat: „Man muß Hypothesen und Theorien haben, um seine Kenntnisse zu organisieren, sonst bleibt alles bloßer Schutt und solche Gelehrte gibt es in Menge.“
Andererseits fand Volker Bohn, ein ausgezeichneter Kenner der Literaturtheorie, nichts dabei, zuzugeben, daß er sich in einer philosophischen Spezialfrage nicht auskannte. Deshalb forderte er bei einer Doktorprüfung, die er als zweiter Prüfer abnehmen mußte, den Kandidaten der Philosophie auf, ihm ein bestimmtes Beweisverfahren von Peirce zu erklären.
Bekanntlich zeigen viele Theologen heute ein demonstratives Desinteresse an Philosophie. Dieses geistige Manko hat Karl Heinz Haag mit Recht scharf kritisiert, weil die Kirchengelehrten deshalb unfähig sind, den herrschenden Nihilismus rational zu widerlegen (cf. , Über die christliche Philosophie bei Karl Rahner, S.192f.).
Daß in den öffentlichen Diskussionen der christliche Standpunkt heute praktisch keine Rolle spielt, hängt sicher auch damit zusammen, daß viele Theologen sich für die geistigen Strömungen der Zeit überhaupt nicht interessieren – im Unterschied zu Romano Guardini, Karl Rahner oder Joseph Ratzinger.
Was die Wissensmanier der Ärzte angeht, so gab es einen Fall, wo drei renommierte Fachärzte die schweren Nebenwirkungen eines Herzmedikamentes nicht kannten; es war vielmehr der Patient selbst, der das Beiblatt las und die Nebenwirkung entdeckte – immerhin hat ein junger Arzt seine Unkenntnis mit Bedauern eingestanden.
Wir alle haben dann in den letzten drei Jahren der Corona-Epidemie von sogenannten Experten der Medizin und der Virologie Statements über wissenschaftliche Erkenntnisse gehört, die sie nach dem Stand der Forschung gar nicht haben konnten, aber medienwirksam verbreiteten.
Ärztegespräche sind in der Regel Pseudogespräche, weil die Ärzte den Patienten meist nicht als gleichwertigen Partner anerkennen. Sie nehmen seine Krankheitsbeschreibung nicht ernst, sondern bleiben bei ihrem lehrbuchhaften Vorverständnis stehen, ohne das Besondere des einzelnen Falles zu berücksichtigen.
Kann ein Mensch einen anderen Menschen wirklich verstehen? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Romane von Georges Simenon und Graham Greene. Simenon bejaht diese Frage mit gewissen Bedenken, Greene verneint sie entschieden.
Simenon hat mit dem Kommissar Maigret eine Figur geschaffen, die zu höchstem Verstehen fähig ist (cf. , Die Grenzen des Menschlichen, S.38ff.). Ihm geht es um das immer neu gestellte Problem, warum ein Mensch zum Mörder wird; d.h. warum ein Mensch eine Tat vollbringt, die ihn aus der menschlichen Gesellschaft ausschließt. Dieses Problem steht auch im Zentrum seines schwärzesten Romans, Der Schnee war schmutzig, und die Frage des zwischenmenschlichen Verstehens ist ein Leitmotiv in Dutzenden seiner „harten“ Romane (cf. , Simenons traurige Geschichten, S.25ff.).
Greene bleibt dagegen in der Frage, ob ein Mensch den anderen verstehen kann, grundsätzlich skeptisch. Der Held des Stillen Amerikaners ist sich der unaufhebbaren geistigen Isolation des Menschen, seiner unentrinnbaren Einsamkeit zutiefst bewußt und meint: „Niemals kennt man ein anderes menschliches Wesen.“ (cf. , Die Grenzen des Menschlichen, S.163) Eine andere Romanperson ist gleichen Sinnes und glaubt, daß die existentielle Situation des Menschen eine Einsamkeit umfaßt, die von Nichtverstehen und Kommunikationslosigkeit geprägt ist. Für sie wird das Verstehen, die Ermittlung von Sinn und Intention im Reden und Handeln des Menschen, zu einem Problem, das sich nur in glücklichen Ausnahmefällen lösen läßt. Das Mißverstehen aber ist unter Menschen die Regel und oft die Quelle einer absurden Komik. ( l.c. 165)
Besser, gründlicher, kundiger, anschaulicher, psychologisch genauer als diese Romanciers könnte ich das Problem des zwischenmenschlichen Verstehens nicht beschreiben.
Wir erleben gerade eine politische Situation, die von einer geradezu tragisch zu nennenden Verständnislosigkeit heillos bestimmt ist. Denn die Ukraine-Krise ist wesentlich auch das Ergebnis einer verständnislosen Politik. Peter Scholl-Latour schrieb 2006 ein Buch über Rußland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam, darin das signifikante Kapitel: „Die Nato drängt nach Osten“.
Dagegen hat kürzlich ein Nato-Sprecher behauptet, daß die Nato nicht die Absicht habe, Rußland einzukreisen. Ein typischer Fall von politischer Verständnislosigkeit, die einer Verweigerung politischer Kommunikation gleichkommt. Jener Sprecher des Westens ist unfähig, die Dinge aus der Perspektive des politischen Gegners zu betrachten. Er hat die elementare Tatsache übersehen, daß Politik eine Sache der Interaktion zwischen Staaten ist; dabei geht es natürlich in erster Linie um die Erhaltung ihrer Machtstellung.
Bei Ernst Jünger kann man lesen, daß ein kluger Politiker fähig sein müsse, für den Gegner mitzudenken. D.h. wie ein Schachspieler muß er die möglichen Züge des Gegners überblicken und darüber hinaus muß er erwägen, welche Option oder Alternative für den Gegner die beste wäre. Er muß das Eigeninteresse des Gegners mindestens so gut kennen wie dieser selbst; unter Umständen muß er es noch besser kennen als dieser selbst.
Er muß also die gegenwärtige politische Situation sowohl aus eigener Sicht wie aus der Sicht des Gegners einschätzen können. Nur auf diese Art kann er seine eigene Lage verstehen, seine Chance oder Gefährdung.
Zu solch einem Verstehen war jener Nato-Vertreter nicht fähig. Er hat nicht erkannt, daß Rußland die Osterweiterung der Nato sehr wohl als Einkreisung verstehen mußte, gleichgültig, ob sie als solche vom Westen gemeint war oder nicht. Und es war vorauszusehen, daß Rußland diese Politik des Westens nicht tatenlos hinnehmen werde.
Woraus sich also ergibt, daß wir nicht nur die Folgen und Risiken des russischen Angriffskrieges tragen müssen, sondern auch die Folgen und Risiken der Verständnislosigkeit, intellektuellen Beschränktheit und politischen Phantasielosigkeit der regierenden Politiker des Westens.
In Henry Kissingers Buch Über das Wesen der Außenpolitik las ich inzwischen, daß es "die in Amerika übliche Auffassung" sei, "daß Konflikte zwischen Nationen eher durch Mißverständnisse als durch kollidierende Interessen hervorgerufen werden" (Kissinger, Die Vernunft der Nationen 1994, 632). Diese Feststellung stimmt mit meiner Beobachtung überein, daß die westlichen Politiker die russische Reaktion auf die Ost-Erweiterung der Nato falsch eingeschätzt haben. Sie haben nicht gesehen, daß die russische Führung diese Erweiterung als eine Bedrohung, eine offensive Maßnahme gegen ihr Land betrachten würde.
Außerdem liegt im gegenwärtigen Konflikt zwischen den westlichen Staaten und Rußland natürlich nicht nur ein Mißverständnis oder eine falsche Lageurteilung unserer Politiker vor, sondern auch eine Kollision der nationalen Interessen. Das Fatale ist aber, daß diese Interessen weder von westlicher noch von russischer Seite bisher klar und präzise umschrieben wurden. Man weiß nicht, wieweit Rußland mit der Eroberung ukrainischen Terrains gehen will, und man weiß nicht, worin die Ziele der westlichen Reaktion auf den russischen Angriff bestehen. Denn daß die Ukraine die Krim wieder erobern könnte, ist eine naive Illusion. Diese Unsicherheit über die Kriegsziele dürfte aber einer der Gründe sein, warum bisher von neutraler oder internationaler Seite noch keine Verhandlungslösung vorgeschlagen wurde. Dies aber wäre ein Ziel, aufs innigste zu wünschen
Die Ahnungslosigkeit derer, die uns regieren, in einem weiteren Punkt aber kann man nur mit Kopfschütteln quittieren – so groß ist die Torheit, die sie ungeniert an den Tag legen. Auf den russischen Krieg haben sie dadurch geantwortet, daß sie wirtschaftliche Sanktionen gegen Rußland verhängten, ohne sich bewußt zu werden, daß Putin seinerseits mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Westen antworten könnte. Die Sanktionen des Westens waren empfindliche Eingriffe in die Weltwirtschaft, sie hatten zur Folge, daß der Ölpreis erheblich gestiegen ist. Wie man von Fachleuten hört, hatte dies aber zur Folge, daß Rußland mit der Ausfuhr seines Öls heute mehr verdient als vor der Sanktionspolitik des Westens.
Und nun kommt, was zu erwarten war, was unsere regierenden Leute in Berlin aber nicht in ihre Abrechnung mit Rußland einkalkuliert hatten: Rußland dreht Deutschland den Gashahn zu, so daß wir spätestens im Winter mit einer Energiekrise rechnen müssen, wenn den Berliner Figuren nicht noch was Besseres einfällt.
Zu erinnern aber wäre hier an die doch wohl peinliche Tatsache, daß die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas durch den Ausstieg der deutschen Regierung aus der Kernenergie entstanden ist. Das russische Gas sollte die Energielücke schließen, die durch die Abschaltung der Kernkraftwerke entstanden ist. Der Ausstieg aus der Kernenergie aber war eine völlig irrationale Entscheidung Merkels (cf. Merkels Regierungsjahre); freilich wurde diese fatale Politik von den anderen Parteien übernommen.
Jetzt aber stellt sich die Frage, ob die Regierung fähig und willens ist, jene Fehlentscheidung wenigstens insofern zu korrigieren, daß sie die Laufzeit der noch aktiven Kernkraftwerke verlängert. Es geht um nichts weniger als darum, die gesamte Energiepolitik, die ideologischen Vorgaben und nicht einer technisch-wissenschaftlichen Denkweise folgt, von Grund auf zu überprüfen. Es sollte den Berliner Politiker doch zu denken geben, daß Japan, das das Unglück in Fukushima erlitten hat, keineswegs auf die Kernenergie verzichtet hat. – Auch ist im Hinblick auf eine mögliche Nahrungsknappheit, die nicht nur die ohnehin armen Länder, sondern auch uns bedroht, die Frage, ob man endlich die wahrhaft perverse Praxis aufgibt, aus Nahrungspflanzen Biosprit zu machen, eine Praxis, die aus der Grünen Ideologie folgt, die in diesem Punkt alles andere als naturgemäß ist.
Zu dem ganzen Schlamassel, in den die Merkelsche und die Grüne Energiepolitik durch die höhere Gewalt eines Krieges fern unseren Grenzen geraten ist, kann man schließlich sagen, daß Goethes Wort sich wenigstens einmal bewahrheitet hat: "Alle Schuld rächt sich auf Erden."
Man erinnere sich daran, daß zur Zeit des Kalten Krieges, der extremen Ost-West-Spannung, Deutschland, Ost und West, nach dem Konzept der atomaren Abschreckung in dem Ernstfall der Schauplatz des atomaren Krieges geworden wäre. Ich habe oben (cf. Appell an die politische Vernunft) zitiert, was Franz Josef Strauß, als Kalter Krieger bekannt, in der damaligen Diskussion gestanden hatte. Er erklärte „als Verteidigungsminister in einem privaten Gespräch Carl Friedrich von Weizsäcker – letzterer erzählte es mir selbst – auf dessen Frage, was er täte, wenn tatsächlich ein atomarer Angriff von der anderen Seite unmittelbar bevorstünde: 'Sofort kapitulieren.'“ (R. Spaemann, Über Gott und die Welt 2012, 125)
Nun lese ich bei Egon Bahr, daß Strauß auch auf jeden Fall verhindern wollte, daß die Amerikaner von deutschem Boden aus Atomwaffen einsetzten: "Von Strauß war verläßlich zu hören, er würde in einem solchen Fall Befehl geben, die zur Bewachung der atomaren Munitionslager eingesetzten Amerikaner zu überwältigen, um damit ihre Benutzung zu verhindern." (E. Bahr, Zu meiner Zeit 1998, 203) – Übrigens war Helmut Schmidt in dieser Existenzfrage der gleichen Überzeugung: "Er sei zu dem Ergebnis gekommen, daß seine Priorität sein müsse, den atomaren Untergang des eigenen Volkes möglichst zu verhindern, also der Bundeswehr zu befehlen, wenn über die NATO-Stränge die Atommunition an die deutschen Träger gegeben werden soll, den Befehl zu verweigern." (l.c. 203)
Es ist evident, was sich aus diesen Überlegungen für die gegenwärtige internationale Krisensituation ergibt. Man kann nur hoffen, daß die verantwortlichen Politiker des Westens den Ernst der Lage erkennen und in ihren Proklamationen und militärtechnischen Handlungen alles unterlassen, was als Eskalation des Konflikts betrachtet werden könnte.